Noch immer eine große Unbekannte

■ Die Leistungen der Pflegeversicherung sind keine Almosen. Bedürftige haben einen Anspruch darauf. Nicht nur alte Menschen, sondern auch junge müssen sie mitunter wahrnehmen. Im letzten Jahr gab es mehr als 1 Million Anträge. Wer kann wann diese Versicherung nutzen?

Pflegefall – allein der Gedanke ist für viele Gesunde tabu. Doch das Schicksal, fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, kann jeden treffen: Durch Krankheit oder Unfall können auch junge Menschen gezwungen sein, ihr Leben neu zu organisieren. Nach Erkenntnissen der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände (AgV) sind allerdings die Regelungen des Pflegegesetzes häufig nach wie vor unbekannt: Viele Versicherte verzichten aus Unkenntnis auf die ihnen zustehenden Leistungen.

Fünf Jahre ist sie jetzt alt: die Pflegeversicherung. Seit 1995 muss jeder dazu einen Pflichtbeitrag leisten. 90 Prozent der Bevölkerung sind gesetzlich krankenversichert und damit – ebenfalls gesetzlich vorgeschrieben – auch pflegeversichert. Zwar sind für die Pflegeversicherung die Pflegekassen zuständig, was aber nach außen nicht erkennbar ist, da sie unter dem Dach der jeweils zuständigen Krankenversicherung angesiedelt sind.

Sich bei einem Träger kranken- und bei einem anderen pflegeversichern zu lassen, ist ausgeschlossen. Doch gelten die Prinzipien der Krankenkassen: Ehegatten und Kinder sind mitversichert; eine Unterbrechung des Krankenversicherungsschutzes unterbricht auch die Pflegeversicherung; sie besteht weiter bei Unterbrechungen wie Mutterschaft, Erziehungsurlaub, Wehr- und Zivildienst. Die Beiträge sind – wie bei der Krankenversicherung auch – an das Einkommen gekoppelt und liegen zur Zeit bei 1,7 Prozent. Wer seine Beiträge zur Krankenversicherung nur anteilig zahlt, beispielsweise 50 Prozent bei Arbeitnehmern, trägt auch nur die Hälfte der Pflegeversicherung. Auch wer sich freiwillig krankenversichert, meldet sich damit zugleich bei der Pflegepflichtversicherung an.

Etwas anders sieht es bei privat Krankenversicherten aus. Zwar gilt auch hier die Pflicht zur Pflegeversicherung, gleichwohl muss die nicht an den privaten Krankenversicherungsträger gekoppelt sein. Erlaubt ist, beide Versicherungen bei verschiedenen Unternehmen abzuschließen. Davon allerdings rät die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände ab: „Die Leistungen der Kranken- und Pflegeversicherung lassen sich nicht immer klar voneinander trennen“, heißt es in einem Ratgeber der Verbraucherschützer. Deshalb sei es vorteilhaft, „beim selben Unternehmen kranken- und pflegeversichert zu sein“. Aus welchem Topf dann welche Leistungen zu zahlen sind, werde unternehmensintern geregelt.

Die Leistungen sind nicht als Vollversorgung konzipiert, sondern decken lediglich eine Grundversorgung: als Unterstützung der familiären Hilfe, als finanzielle Entlastung für Angehörige. Pflegebedürftigkeit besteht dann, wenn wegen Krankheit oder Behinderung zur Bewältigung des täglichen Lebens regelmäßig fremde Hilfe nötig und auf Dauer und in erheblichem Maße erforderlich ist, mindestens aber für sechs Monate.

Leistungen aus der Pflegeversicherung sind bei der Pflegekasse zu beantragen, in der Regel vom Pflegebedürftigen selbst. Formal sei dies unaufwendig. Laut AgV genüge die einfache Mitteilung: „Ich beantrage Pflegeleistungen, weil ich pflegebedürftig bin.“ Mitunter sind die Bedürftigen selbst jedoch nicht in der Lage dazu. Pflegekassen akzeptieren deshalb auch einen Antrag durch Angehörige. Die Bescheinigung eines Arztes sei nicht erforderlich. Die Pflegekassen schicken dann einen Antragsvordruck, worin beispielsweise auch anzugeben ist, ob bei häuslicher Pflege Sachleistungen, Geld oder eine Kombination von beidem gewünscht wird. Daraufhin wird ein Arzt des Medizinischen Dienstes (früher: Vertrauensarzt) eingeschaltet, der per Gutachten den Grad der Pflegebedürftigkeit ermittelt – woraus sich dann die notwendigen pflegerischen Leistungen ergeben – und Vorschläge zur Rehabilitation, Gesundheitsförderung und Prognosen über die weitere Entwicklung der Pflegebedürftigkeit formulieren kann.

In einem Bescheid erfährt der Antragsteller dann, welche Pflegestufe ermittelt wurde und welche Leistungen ihm zustehen. Unterschieden werden drei Pflegestufen: Stufe 1 ist die „erhebliche Pflegebedürftigkeit“. Hierbei muss der Versicherte beispielsweise für die Körperpflege und die Versorgung des Haushalts auf fremde Hilfe angewiesen sein und der durchschnittliche Aufwand dafür pro Tag mindestens 90 Minuten betragen. Mehr als die Hälfte davon muss auf die Pflege selbst entfallen, der Rest auf die Versorgung des Haushalts. Die Stufen 2 („schwerpflegebedürftig“) und 3 („schwerstpflegebedürftig“) bemessen sich am steigenden Grad der notwendigen Hilfe. Stufe 3 beispielsweise besteht dann, wenn der Gutachter die Notwendigkeit einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung feststellt. Als monatliche Geldleistung bekommt der Antragsteller hierbei 1.300 Mark, als Sachleistung – dazu zählt auch die Bezahlung professioneller Pflegedienste – bis zu 2.800 Mark.

Maßgeblich ist in jedem Fall der individuelle Bedarf der versicherten Person, nicht etwa, ob Lebenspartner helfen können. Wer nicht mindestens die Voraussetzungen der Stufe 1 erfüllt, erhält keine Leistungen aus der Kasse. Wer als Pflegefall eingestuft wird, bekommt die Dienstleistung rückwirkend zum Tag der Antragstellung. Einem ablehnenden Bescheid kann man widersprechen. Der Gutachter muss dann seine Feststellungen prüfen.

Die Zahl der Erstanträge betrug im vergangenen Jahr mehr als 800.000, zusammen mit Wiederholungsanträgen lag sie gar bei über eine Million. Davon wurde in 42 Prozent Pflegestufe 1 bewilligt, in 19,9 Prozent Stufe 2 und in 5,7 Prozent der Fälle Stufe 3. Der Rest wurde abgelehnt. Bis zum Jahr 2020, so schätzt das Kuratorium Deutsche Altenhilfe, steigt die Zahl der Pflegebedürftigen auf mehr als 1,8 Millionen. Die Bearbeitung eines Antrags dauert etwa acht Wochen. „Größere Zeitspannen zwischen Antrag und Besuch des Gutachters sollte man nicht hinnehmen“, rät die AgV, und gegebenenfalls „bei der Pflegekasse reklamieren“. Andreas Lohse