Ultimatum aus Moskau

Die tschetschenische Bevölkerung soll Grosny bis Samstag verlassen. Die russischen Truppen wollen dafür einen Fluchtkorridor einrichten    ■ Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) – Russische Flieger haben am Wochenende über Grosny Flugblätter abgeworfen, die die noch verbliebene Bevölkerung auffordern, die Ruinenlandschaft der ehemaligen Hauptstadt zu verlassen. Das Ultimatum läuft kommenden Sonnabend aus. „Wer bleibt“, heißt es in der Wurfsendung, „den betrachten wir als Terroristen und Banditen. Es wird keine Gespräche geben, wer zurückbleibt, wird vernichtet. Der Countdown läuft.“ Der Text des Ultimatums ist an Härte kaum zu übertreffen.

Das Oberkommando der russischen Truppen spricht von einer „letzten Chance“, die es den Einwohnern ab heute einräumt. Bis zum 11. Dezember soll den Fluchtwilligen ein Sicherheitskorridor durch das Dorf Perwomaisk westlich von Grosny zur Verfügung gestellt werden. Ob sich die russische Seite an das Versprechen hält, ist fraglich, da es vor Ort keine unabhängigen Beobachter gibt.

Am Wochenende hatten Armee-Einheiten wieder einen Flüchtlingstreck angegriffen und vierzig Menschen getötet. Offenkundig handelte es sich dabei um einen Racheakt, nachdem russische Truppen in der Nähe der Stadt Argun am Vortage schwere Verluste erlitten hatten. Etwa 200 Soldaten sollen im Kampf gefallen und etwa 50 Gefangene anschließend von islamistischen Rebellen auf bestialische Weise hingerichtet worden sein. Das berichtete zumindest der stellvertretende Innenminister der Nachbarrepublik Inguschetien, Ali Dudarow.

Seit Wochen hat die russische Armeeführung die unmittelbar bevorstehende Umzingelung Grosnys angekündigt. Inzwischen bestätigen auch Quellen des Gegners, russische Einheiten hielten alle wichtigen Knotenpunkte rund um die Stadt besetzt. Auch die lang umkämpfte Ausfallstraße nach Argun befindet sich nunmehr in der Hand der föderalen Truppen. Über die südliche Ausfallstraße konnten sich die Rebellen bisher ungehindert in die Berge zurückziehen und den Waffennachschub sichern.

Laut tschetschenischen Meldungen stellt die Einkesselung Grosnys die Rebellen jedoch vor keine unüberwindbaren Hürden. Angeblich seien sie in der Lage, die russischen Stellungen unbemerkt zu umgehen. Die Arbeit an den Verteidigungseinrichtungen in der Stadt gehe weiter. Die Schlacht um Grosny stehe unmittelbar bevor, verlautete aus tschetschenischen Kreisen.

Bisher hat die russische Generalität alle Spekulationen zurückgewiesen, sie könne die Stadt mit Bodentruppen stürmen lassen. Stattdessen verfolgt sie die Taktik, den Gegner platt zu bomben und auszuhungern. Der Versuch, die Stadt einzunehmen, endete im ersten Kaukasuskrieg 1994 in einem totalen Desaster, das mindestens tausend unerfahrenen Rekruten das Leben kostete.

Diesmal hat die Armee zumindest ihre Propaganda-Lektion gelernt. Wichtigstes Ziel sei es, eigene Verluste zu vermeiden, betont die Armeeführung unermüdlich. Ob sie sich im Felde daran hält, steht auf einem anderen Blatt. Die Generalität gehört nicht zu den moralisch integersten Segmenten der Gesellschaft.

Schwere Kämpfe wurden auch aus der 25 Kilometer südwestlich von Grosny gelegenen Stadt Urus Martan gemeldet.

Unterdessen scheint auch die siegestrunkene Generalität nicht mehr daran zu zweifeln, dass sich die Hauptschlagkraft der Rebellen längst in die Bergregion zurückgezogen hat und sich dort auf einen kräftezehrenden Winterkrieg vorbereitet, der die Armee noch vor eine harte Probe stellen wird. Wiederholt hat die russische Luftwaffe in den letzten Tagen daher Stellungen in der Arguner Schlucht unter Beschuss genommen.

Der Erfolg des Militärs in der tschetschenischen Ebene beruht auf einem Phänomen, das im ersten Krieg kaum anzutreffen war. Um ihre Dörfer vor der Zerstörung zu retten, fordern ganze Dörfer die islamistischen Rebellen auf, sich aus dem Staub zu machen.