Wer ist wohl der beste Kanzler fürs Land?

■ Der eine wird heute zum SPD-Vorsitzenden gewählt, der andere zu einem seiner fünf Stellvertreter. Über die alte Rivalität zwischen Gerhard Schröder und Rudolf Scharping

Nun werden sie also wieder zählen. Irgendwo hinten in der Kulisse des Parteitags, wo keine Fahnen in Optimismus-Blau und Sozen-Rot die Risse in der SPD zu kaschieren versuchen. In einem der Hinterzimmer, die kalt ausgeleuchtet sind wie Umkleidekabinen, werden heute Nachmittag die Genossen von der Zählkommission Zettel auf Zettel, Stimme auf Stimme häufen. Am Ende wird eine Zahl stehen. Sie wird entscheiden, wer der Beliebteste aller Sozialdemokraten ist. Sie wird entscheiden, ob Rudolf Scharping der ewige Zweite bleibt, oder ob er seinen Parteichef Gerhard Schröder an Popularität übertrifft.

Fürs Erste wird diese Zahl, gleich wie sie ausfällt, ohne Auswirkungen bleiben. Denn die beiden Kandidaten treten nicht gegeneinander an: Gerhard Schröder wird am Vormittag gewählt werden, Rudolf Scharping am Nachmittag, der eine wird Vorsitzender, der andere einer von fünf Stellvertretern. Doch für die Frage, die an ihnen nagt, spätestens seit sie 1994 im Trio mit Lafontaine die Mehrheit im Land erobern wollten, sind Ergebnisse wie das von heute Nachmittag bedeutsam: Wer ist der beste Kanzler fürs Land?

Rudolf Scharping war so leichtsinnig gewesen, seine ganz persönliche Antwort bekannt werden zu lassen. Er traue sich das Amt des Kanzlers durchaus zu, wurde er vor einiger Zeit zitiert. Alarmierte Mitarbeiter des Bundeskanzlers eilten mit der Meldung zu ihrem Chef. Im aufgeheizten Treibhaus einer Regierungszentrale blüht vor allem der Verfolgungswahn.

Wer will einem als nächstes die Macht entwinden, die mühsam gerade errungene? Von den Gegnern im anderen politischen Lager ist die böse Absicht zumindest bekannt, bei den eigenen Genossen muss man sich auf den Verdacht verlassen. Doch Gerhard Schröder reagierte entspannt. Selbstverständlich hält der Rudolf sich für geeignet, den Kanzler zu machen, lässt er die Mitarbeiter wissen. Das könne er ihm schlecht übel nehmen.Was solle der Verteidigungsminister auch anderes sagen? 1994 immerhin war er Kanzlerkandidat der SPD, Parteivorsitzender noch ein Jahr länger.

Aus dieser Zeit ist Gerhard Schröder die Rolle des Stillhalters vertraut, und sie muss ihm noch schwerer gefallen sein als Scharping heute: Schröder, der Vordrängler von Kindesbeinen an, musste damals den eigenen Ehrgeiz immer wieder zurückstopfen wie ein zu großes Hemd.

1993 hatte Schröder gegen Scharping die neu eingeführte (und nie wiederholte) Mitgliederabstimmung um den Posten des Parteichefs verloren. Im Bundestagswahlkampf des folgenden Jahres wurden ihm die Auftritte im Gefolge des zahmen Rudolf bisweilen zur Qual. „Die Menge spürt, dass sich hier einer präsentiert, der nach oben will, nach ganz oben“, beschrieb seinerzeit ein Beobachter den Schröder-Wahlkampf. „Und prompt kommt aus dem Publikum die Frage, ob es nicht besser wäre, er würde gleich selber Kanzler werden.“ Schröder habe gestockt. „Soll er jetzt sagen, was er eigentlich denkt, oder soll er sich loyal hinter den Kandidaten stellen? Das schafft er nicht.“ Schröders hinreichend eleganter Ausweg: „Das ist eine Fangfrage, und die beantworte ich nicht.“

Beide kennen also ihre Rollen besonders gut, gerade weil sie sie im Laufe des Kampfes um die Macht schon mehrfach getauscht haben. Auf dem Weg nach oben haben die Brüder im Geiste überdies ein beachtliches Familienalbum gegenseitiger Verletzungen zusammengetragen. Das Bild von Schröder auf dem Deich gehört dazu, 31. August 1995. In der Hand hält er ein Handy, über das Scharping ihn wegen angeblicher Illoyalität von seinem Posten als Wirtschaftssprecher entlässt. Damals hat Schröder den Vorwurf bestritten und sich gebeugt. Heute weiß der Verteidigungsminister, dass in einer solchen Beziehung bereits der Verdacht das Risiko auf ein plötzliches Ende birgt. So hat er vor dem Parteitag darauf geachtet, dass die Ausweise seiner Loyalität allenthalben bekannt und wohl verstanden werden.

Im Zweifelsfall hält er es mit Schröders Skepsis gegenüber Fangfragen. Erst jüngst beschied er Reporter: „Wenn Journalisten sowieso spekulieren wollen, wieso soll ich dann auch noch die Zitate liefern?“ Patrik Schwarz, Berlin