Systematische Gewalt und Rache

■  Das Kriegsende brachte nicht den Frieden: Die OSZE präsentiert einen ersten Bericht über die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo vor und nach dem Nato-Einsatz

Schreckensbilder aus allen Städten und Dörfern Kosovos zeichnet der Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) über die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo nach. Der Bericht, der in zwei Teile gegliedert ist und an die 900 Seiten umfasst, befasst sich im ersten Teil mit der Gewalt serbischer Sicherheitskräfte gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit, im zweiten Teil mit den Menschenrechtsverletzungen nach dem Einmarsch der Nato am 12./13. Juni 1999.

„In Ferizaj (serbisch Urosevac ) verschlechterte sich Ende März die Lage dramatisch“, wird ein Augenzeuge in diesem Bericht zitiert. „Ich sah Häuser brennen, manche wurde gesprengt ... auf der Straße hielten sich am Morgen Soldaten auf, Polizisten und Paramilitärs kamen im Laufe des Tages hinzu. Die Paramilitärs hatten Jeeps und schwarze Autos, schwarze Uniformen, lange Bärte und automatische Waffen. Sie begannen, serbische Häuser zu markieren, offenbar mit der Absicht, sie während der kommenden Angriffe zu verschonen.“

Dann brach in Ferizaj wie in anderen Städten und Dörfern das Inferno herein. Die Aktionen der Militärs, Polizisten und der Paramilitärs waren aufeinander abgestimmt. Die albanische Bevölkerung wurde vertrieben, nach dem Bericht der OSZE kam es zu vielen Vergewaltigungen. Eine Mutter berichtet über die Vergewaltigung und den Tod ihrer minderjährigen Tochter. Das Mädchen wurde nach der Tat vor dem Haus von den Paramilitärs erschossen. In vielen Dörfern wurden Männer und Frauen voneinander getrennt, vor allem jüngere albanische Männer mussten um ihr Leben bangen. Die Massaker an den Männern sind ebenso aufgeführt wie der systematische Raub von Geld, Schmuck, Autos und anderen Gegenständen.

Der Bericht der OSZE, der gestern im Internet veröffentlicht wurde, stellt den ersten systematischen Versuch dar, die Ereignisse im Kosovo chronologisch zu erfassen. Untersuchungsteams der Organisation sammelten Informationen in allen Bezirken der Provinz und gingen den Hinweisen aus der Bevölkerung auch in den kleinen Dörfern und Weilern nach. Da die Mission der OSZE schon im Oktober 1998 begonnen hatte, konnte die Organisation auch auf ihre Untersuchungen vom Herbst letzten Jahres zurückgreifen. Obwohl während der Nato-Angriffe vom 24. März bis 12. Juni 1999 nicht im Lande tätig, halfen die Kenntnisse vom letzten Jahr, die Befragungen der Flüchtlinge und Rückkehrer systematisch zu gestalten.

Der zweite Teil befasst sich mit der Gewalt, die nach dem Einmarsch der Nato und der Rückkehr der albanischen Vertriebenen ausgeübt wurde. Schon bald danach kam es zu Übergriffen an der im Kosovo gebliebenen serbischen Bevölkerung – die Militärs, Polizeikräfte und Paramilitärs waren zum größten Teil abgezogen worden –, aber auch an Roma und anderen Minderheiten. In der Stadt Gnjilane, die von US-Truppen beherrscht wird, wurden seit der Rückkehr der Albaner 280 Häuser von Serben und Roma zerstört. Die betroffenen Bevölkerungsgruppen mussten fliehen.

Nach Informationen der Kosovo-Force (Kfor) sind seit Juni bis zum 31. Oktober 180 Serben ums Leben gekommen. Die OSZE sieht nicht nur Racheakte der albanischen Bevölkerung als Grund an, sondern macht auch Teile der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK für diese Gewalt verantwortlich.

In der Region nördlich von Kosovska-Mitrovica und in einem Teil der Stadt, so zeigt der Bericht auf, herrschen weiterhin serbische Sicherheitskräfte. Albanern ist die Rückkehr in diese Region, in der sich auch die größte Mine Kosovos, Trepca, befindet, bis heute verwehrt. Die serbische Bevölkerung – nach Schätzungen der UN noch 90.000 Menschen – sind in diesem Gebiet wie in mehreren Enklaven, die über das ganze Land verteilt sind, konzentriert, der größte Teil der ursprünglich 80.000 Roma musste fliehen.

Erich Rathfelder