Ich möchte endlich Ruhe

■ Der Künstler Martin Rosz stellt sich aus: sein Fühlen, Denken und seine Zehennägel

Sie ist bunt, sie ist hässlich. Und sie ist an einschlägigen Stellen abgeschabt durch die stete Arbeit einer funktionstüchtigen Gesäßmuskulatur. Muffen tut sie aber nicht, die Unterhose von Martin Rosz. Auch Authentizität kennt ihre Grenzen. Dieses rührende Dokument außenseitertümiger Calvin-Klein-Resistenz hängt ordentlich auf billigem Drahtkleiderbügel mitten im Gästeappartement in einer versteckten Zwischenetage der Weserburg, zwischen Kunst und Leben. Jüngst hat ein deutsches Museum eine komplette Studentenbude inklusive ranziger Milchreste und Altpapiergebirge zwecks Dokumentation von Lebenskultur angekauft. Schließlich könnte Studententum demnächst aussterben, und dann weiß niemand, wie's gewesen war. Martin Rosz geht lieber gleich ins Museum und lebt dort ein paar Wochen. Spätestens um 11 Uhr vormittags, wenn die Weserburg öffnet, zieht er Leine. Statt studentischer Brotkrümel hinterlässt er allerdings die Erträge einer lebenslangen Existenz als Sammler. Rosz sammelt nicht Bierdeckel, nicht Schallplatten, er sammelt sich selbst, zum Beispiel abgeschnittene Fingernägel und Haare, ordentlich verpackt und mit Datum und Uhrzeit des Ablagetages versehen wie die Unterhose. Ein Ego-Sammler also.

Alt ist der Satz, dass jeder Mensch das Zeug zum Künstler hat. Rosz' egomanische Installation sucht die Erweiterung: Jeder Mensch ist ein Kunstwerk. Rosz erzählt, dass er partout nichts wegschmeißen kann. Und zwar deshalb, weil er nicht fähig oder nicht willens ist zu beurteilen, was wichtig ist und was unwichtig, im Leben und überhaupt. Und so findet man zufällige, wenig aussagekräftige Belanglosigkeiten neben Intimen: Fundstücke eines passionierten Spaziergängers, Eintrittskarten von Museen, bekritzelte Speisekarten von einem gewissen Ristorante Giovacchino oder minutiöse No-tate des Musikkonsums (am 16.5. 1991 lauschte Rosz den Klängen von John Adams und Hans Pfitzner) neben offenherzigen Tagebuchnotizen: „Ich möchte endlich Ruhe ... einen Platz, wo ich nicht Angst haben muss.“ Mal hat Rosz Angst, auf die Bank zu gehen, weil sein Konto heillos überzogen ist; mal leidet er, weil er einen ganzen Nachmittag lang vergeblich versuchte, die Schriftstellerin Irene Dische telefonisch zu erreichen; mal wacht er statt um 11 Uhr schon um sieben Uhr früh auf und fragt sich, was Gott ihm wohl damit sagen wollte; mal streitet er sich mit einer Frau albern herum, weil er ihr das versprochene Plakat nach einem unerfreulichen Gespräch nun doch nicht überlassen möchte.

Thomas Mann hielt es – ähnlich wie Goethe – für nötig, in seinen Tagebuchschwarten selbst die allerkleinste Verdauungsbeschwerde der Nachwelt zu übermitteln. Und auch Martin Rosz bewahrt keineswegs nur Geistesblitze auf. Eitel wie Mann ist er aber nicht. Eher schon scheint er die tägliche Niederschrift zu brauchen, um sich der Existenz zu vergewissern: Hoppla, ich lebe.

Seit geraumer Zeit rennt er (fast) täglich zu einem Relief an einem Schinkelbau und malt es stets aufs Neue ab, aus nur leicht differierenden Perspektiven. Über 300 Doubletten existieren mittlerweile von dem Engelsgesicht mit den seltsamen halbgeschlossenen Augen, sagt sein Freund, Mitentdecker, Förderer Thomas Deecke. Die Straßenbauarbeiter in der Nähe schmunzeln schon über den Maler mit der kafkaesken Bürohengstdisziplin. Künstler sein heißt nicht zuletzt dem Spott zu spotten lernen. Die per Handarbeit geklonten Engelsgesichter erinnern an Peter Dreher, der jeden Tag dasselbe Wasserglas malt, an Roman Opalka, der mit seinen endlosen Zahlenreihen das Verrinnen von Lebenszeit dokumentiert, oder an On Kawara, der eine schlichte Datumsangabe zum Kunstwerk erklärte.

Carpe diem, trichterte Robin Williams seinen Eleven im „Club der toten Dichter“ ein. Groß und allgemein scheint das Bedürfnis zu sein, dem unaufhaltsamen Verrinnen der Tage etwas Haltbares abzuringen, Zäsuren einzuhauen in das Tickern der Sekunden. Lustig, wie Nietzsche behauptete, ist die ewige Wiederkehr des Gleichen nicht immer: Auf DIN-A-4-Blättern, die eine ganze Wand inklusive Fensterrahmen bedecken – blitzsauberes Tapeziererhandwerk – vermischen sich ebenso akribische wie oberflächliche Wegbeschreibungen von Roszs Streifzügen durch Berlin-Wedding (“Plantagenstraße 15, Schulstraße, Kaufhaus Karstadt, Wielandstraße, Kurfürstendamm, Bus Nr. 19 ...“) mit Zitaten aus Karl Philipp Moritz' autobiografischem Roman „Anton Reiser“ von 1790. Der erzählt die gruselige Geschichte einer Zurichtung. Anton Reiser wird von dauerprügelnden Lehrherren in Einsamkeit, Verzweiflung und psychotische Gewalttätigkeit getrieben. Die Flucht in die Fantasiewelten der Literatur rettet ihn vor dem Wahnsinn. Auch für Rosz scheint Lektüre viel mehr zu sein als Bildung. Zitate von Hegel über Bataille bis zu Autoren der römischen Antike nehmen sich im Tagebuch aus wie Rettungsringe oder Bojen im Meer unübersichtlicher Alltagsimpressionen. Richtig persönlich wird es aber erst auf Gemälden. Da verfaulen Blumen, bis sie Penissen ähneln. bk

Bis 23. Januar. Katalogbuch 35 Mark (außerdem zu sehen: Arbeiten des Wortkünstlers Lawrence Weiner und drei weitere Sonderausstellungen zu sehen).