Vom Stuckrad-Barre zum späten Nietzsche

Schwester Osteuropa und ihr reicher Bruder oder Elend als Passion: „Pola X“ von Leos Carax ist ein Entwicklungsroman über die neue französische Armut, mystische Liebesgeschichte, großer Opfergang und vor allem sehr metaphorisch    ■ Von Katja Nicodemus

Ist Armut die neue Attitude einer Jeunesse dorée, die ansonsten nichts mehr mit sich anzufangen weiß?

Boy meets girl, East meets West, was eigentlich schon reicht für eine metaphorische Überforderung der Figuren. Weiter: goldene Locken und verfilzte Mähne, Helligkeit und Dunkelheit, Reichtum und Armut, Herrscher und Unterdrückte. „Pola X“ ist ein Film, der ganz und gar Metapher sein will und der alles gleichzeitig ist, mystische Liebesgeschichte, negativer Entwicklungsroman, die halbe abendländische Kulturgeschichte, Kommentar zum Ost-West-Verhältnis, Titanenmythos, Künstlerparabel. Und nicht zuletzt die Verfilmung von Herman Melvilles 1852 entstandenem Roman „Pierre, or the Ambiguities“.

Wie es sich für einen anständigen abendländischen Mystizismus gehört, nimmt die eigentliche Geschichte ihren Anfang im tiefen, tiefen Wald. Pierre Vallombreuse (Guillaume Depardieu), goldhäuptige Lichtgestalt, Liebling der Götter, Romanautor und Spross einer steinreichen französischen Adelsfamilie, begegnet hier der Nemesis. Eigentlich trifft er nur ein Mädchen, das ihm eine wirre Geschichte erzählt, aus der hervorgeht, dass sie seine vom Vater im Stich gelassene Halbschwester ist. Isabel (Katherina Golubeva) kommt mit ihren zwei Begleiterinnen aus dem Nichts, das heißt irgendwoher aus Osteuropa, wo ihr Dorf zerbombt wurde. Pierre nimmt alle Schuld auf sich. Die des Vaters und die der ungerechten Weltverhältnisse.

Weshalb ein blonder junger Mann seine liebenswerte Verlobte, ein Schloss, viel Geld, eine blonde Mutter, die von Catherine Deneuve gespielt wird (und mit der ihn ein wohlig inzestuöses Flair verbindet) sowie eine vielversprechende Zukunft als Modeautor aufgibt, um mit drei düsteren Gestalten nach Paris zu gehen, in freiwillige Entsagung und Kasteiung, bleibt ein von der Metapher nicht ganz aufgelöster Rest.

Lebte Pierre in Deutschland, würde er sich jetzt wahrscheinlich im Adlon einschließen, die völlige Kontingenz der Meinungen und Werte propagieren und so lange Sprachblasen aufs Papier bringen, bis die Kreditkarten gesperrt werden. Da er in Frankreich lebt und das Elend Osteuropas auf den Schultern trägt, wirft er die Kreditkarten gleich weg, schließt sich in einem zugigen Pariser Loft ein und versucht, den Weltenroman zu schreiben.

Bereits in „Die Liebenden vom Pont Neuf“ betrieb Leos Carax die Poetisierung des Elends. Da zog Juliette Binoche als erblindende Malerin die romantische Authentizität des Obdachlosendaseins der Sicherheit ihrer bourgeoisen Herkunft vor. Dokumentarisch gefilmte Penner wurden von einer kitschigen Post-Hippie-Fantasie geschluckt, die historische Pariser Brücke Pont Neuf zum utopischen Ort der kreativen Armut stilisiert. Auch in „Pola X“ gibt es ein Paris im Paris: eine osteuropäische Künstlerkolonie in den verlassenen Industriegebäuden der Seine-Quais. Hier bereitet sich der East-Underground mit Waffenübungen auf den Tag X vor, hier trommeln wilde Männer unter Anleitung eines Gurus (Sharunas Bartas) auf leere Öltonnen ein (so wie Test Department vor ungefähr fünfzehn Jahren), hier finden Pierre und Isabel ihr urbanes Refugium. Er schreibt, sie spielt dazu auf einer Art Ziehharmonika.

Die These, dass Armsein kreativ macht, wird in „Pola X“ allerdings mehrfach gebrochen. Die Begegnung mit seiner Halbschwester Osteuropa führt bei Pierre zwar zur Abkehr von der Zeitgeistschreibe („Licht – Der Roman einer Generation“), hin zu den wirklich wichtigen Themen, die man aus seinem diffusen Gestammel allerdings nur erahnen kann. Sozusagen die Wandlung vom Stuckrad-Barre zum späten Nietzsche. Die im geläuterten Jungschriftsteller aufscheinende Wahrheit über die Verwerflichkeit der Welt scheint jedenfalls so ungeheuerlich, dass sie sich nicht mehr künstlerisch kommunizieren lässt. Körperlich und geistig zunehmend verfallend, bekritzelt Pierre manisch Seite um Seite eines chaotischen Romankonglomerats.

In Melvilles seltsam fahriger Buchvorlage, die sich nach „Moby Dick“ wie ein viktorianischer Gesellschaftsroman auf LSD liest, spiegelt der Autor die eigene Schaffenskrise in der seines Helden – und pausierte danach einige Zeit mit dem Schreiben. Emblematisches Bild der Orientierungslosigkeit und Versagensangst ist im Roman eine düstere Wendeltreppe, die im Nichts endet.

Insofern könnte auch die chaotische Unentschlossenheit und Überladung von Carax' Film eine weitere, wenn auch ziemlich teure selbstreferenzielle Pointe sein oder zumindest ein sympathisch trashiges Scheitern – wäre da nicht dieser bleischwer betroffene Welterlösungsgestus und die völlig unironische Konstruktion eines Märtyrers.

Von wegen also „Pierre oder Die Doppeldeutigkeit der Dinge“: eine eindeutige Passionsgeschichte. Mit gehetztem Blick, wunden Füßen und wirrem Haar humpelt Pierre (seine Mutter heißt übrigens Marie) dem Untergang entgegen, eine Jesusfigur, die ganz am Schluss sogar den goldenen Umhang des Propheten um die leidgeprüften Schultern gehängt bekommt.

Armut als neueste Attitude einer Jeunesse dorée, die ansonsten nichts mehr mit sich anzufangen weiß? Das wäre dann die richtige „Tristesse Royale“ und ein hübsches dekadentes Spielchen, in dem Schwester Osteuropa so oder so auf der Strecke bleibt – ob sich europäische Jungpoeten jetzt zu Tode hadern oder nicht. Also lasst ihnen bloß ihre Kreditkarten. „Pola X“. Regie: Leos Carax. Mit Guillaume Depardieu, Katherina Golubeva, Catherine Deneuve. F 1998. 134 Min.