Werther gegen den Rest der Welt

■ Alles, was einem zum Thema Abschied einfällt: Hans König vom Kulturbahnhof Vegesack hat's in einer durchwachsenen Revue namens „Addio“ verpackt

Leonardo di Caprio ist eine arme Sau. Wer will schon im eisigen Nordatlantik ersaufen? Im zurzeit auch eisigen Vegesack ist er jedoch eine noch ärmere Sau. Auf Geheiß von Hans König, dem künstlerischen Leiter des dortigen Kulturbahnhofs, muss der arme Leonard mittels Videobeamer nicht nur einmal, sondern („once more“) gleich in Serie abtauchen. Doch auch wenn einem der schöne Leonard fast leid tun kann: In einer Revue zum Thema Abschied darf der Abschiedsfilm schlechthin, James Camerons „Titanic“, nicht fehlen.

Jo ho! Ein Jahrtausend geht bald zu Ende. Ein Jahr auch mal wieder. Und ohnehin geht dauernd irgendetwas zu Ende. Da sagt man dann leise „Servus“ oder zischelnd „Tschüss“ oder – wie im Kulturbahnhof Vegesack – espananisch „Addio“ und „Der heiße Kuss des Abschieds“. Eigentlich hatte der stadtbekannte Autor, Schauspieler und Regisseur Hans König wissen wollen, was die VegesackerInnen – von wegen Millenium – zum Thema Abschied denken. Doch Frau Burg und Herr Blumenthal schrieben vor allem Plattitüden in die dafür allseits ausgelegten Bücher. Also verfasste König selbst eine Collage über die Themen Abschiedsszenen-, -schmerzen, -rituale, -umarmungen und so weiter. Für den szenischen und musikalischen Teil bediente er sich – außer bei „Titanic“ und Popsongs – vor allem bei Klassikern: All die Selbstmörder, Totschläger, Opferlämmer und Liebestöter von Penthesilea über Werther bis zu Jesus Christ Superstar spuken da durch die Textvorlage – nicht ohne allerdings von Hans im Bahnhof mehr oder weniger renoviert oder durch den Kakao gezogen zu werden.

Der junge Herr W. etwa schreibt zwar seine letzten Briefe an Lotte noch per Hand. Aber ansonsten kann er sogar Fernabfragecodes von Anrufbeantwortern knacken und verfügt außerdem über Internet-Anschluss. Und Orpheus leiht sich Fährmann Charons Handy, um mit Pluto über die Freilassung Eurydikes aus der Unterwelt zu verhandeln. Echt aufgepeppt, das. Und witzig, teilweise. Nur so ganz genau hingucken sollteste lieber nich, denn dann kannste gleich Addio sagen.

Es geht nämlich doch ganz schön rauf und runter in dieser kleinen alten Güterhalle, in die extra ein Gleis für theatrale Draisinenfahrten verlegt wurde. Halb Sing- und halb Schauspiel, hat Hans König in seinem rund zweieinhalbstündigen Spektakel fast alles verpackt, was einem zum Thema Abschied in den Sinn kommen kann. Selbst eine kleine tänzerische Einlage namens „Rituale“ und eine Schau mit diversen Abschieds-Moden gehören dazu.

Das von AmateurInnen bis Profis gestellte siebenköpfige Ensemble schlägt sich unterschiedlich wacker durch den Schauspiel-Teil. Es glänzt durch seine Typen. Während Profi Barbara Weller eine bloß bedeutungsschwere Kassandra spielt (oder eher spricht), gefällt der eher dem Amateurbereich zuzurechnende Frank Ruge als eine Art „Werther gegen den Rest der Welt“. Und während da auf der Bühne namens Gleis 5 a einmal ein unfreiwillig komischer Theatertod chargiert wird, mimt der Junges-Theater-Dauergast Claus Franke wenig später in bewährter Manier Showmaster, Pennerkönige oder auch Männer ohne Eigenschaften.

So geht halt wie im Leben auch im Schauspiel-Teil von „Addio“ so mancher Schuss daneben. Was aber für den musikalischen Teil so gut wie gar nicht gilt. Eine sechsköpfige Band (mit Hans König an der Gitarre) spielt das musikalische Potpourri von Schuberts „Wanderer“ bis zu Madonnas „The power of goodbye“. In leicht veränderten Arrangements verknüpft die Band gekonnt Schau- und Singspiel. Und die Sängerin Sema Mutlu zeigt, dass sie nicht nur im Duo mit ihrer Schwester Derya rappen kann, sondern – mit Abstrichen beim so genannten Kunstlied – eine außerordentlich vielseitige Sängerin ist. Bei ihrer Interpretation von Celine Dions „Titanic“-Hit „My heart will go on“ wird's auch armen Säuen und Eisklötzen warm ums Herz.

Christoph Köster

Aufführungen: 10. bis 12. und 15. bis 19. Dezember jeweils um 20 Uhr im Kulturbahnhof Vegesack, Hermann-Fortmann-Straße 32. Im Keller ist eine Rauminstallation von Matthias Duderstadt und Peter Klug zu sehen. Mit dem Zug kommt man ab 19.10 Uhr ab Hauptbahnhof (Gleis 6) gut an.