Das unfreiwillige Zentralorgan der Sozialisten

■ Jürgen Reents bekämpft die kontraproduktive Nähe des „Neuen Deutschland“ zur PDS

Eigentlich müsste etwas los sein an diesem winterkalten Dezembermorgen auf den 16 Seiten des Neuen Deutschlands. Am Vortag tobten Demonstranten so heftig in den Straßen Seattles, dass die dort beratende Welthandelsorganisation jede Liberalisierung um einen Tag verschieben musste. Ein Punktsieg für den Antikapitalismus – selten genug. Und damit ein toller Stoff für „die sozialistische Tageszeitung“ aus Berlin.

Fehlanzeige. Keine Sonderseite im Blatt. Kein aktuelles Porträt stellt die Kämpfer aus Übersee vor. Zwar war hier ein ND-Mitarbeiter tatsächlich vor Ort. Dennoch: nur Pflichtberichterstattung aus Seattle. Ausführlich widmet sich das Auslandsressort dafür einem Forum von „Cuba si“, einer Arbeitsgemeinschaft der PDS.

„Ja, wir sind eine PDS-Zeitung“, sagt der Chefredakteur Jürgen Reents, „so wie der Tagesspiegel eine Holtzbrinck-Zeitung ist“. Die PDS ist De-facto-Eigentümerin des ND und es scheint, selbst der Genosse Chefredakteur hätte lieber den Holtzbrinck-Konzern als Verlag. Reents beschwört: „Wir sind kein Linienblatt!“

Was soll er auch tun außer geduldig appellieren? Reents ist der erste Wessi auf dem Chefposten hier, ohne DDR-Sozialisation, dafür vertraut mit dem westlinken Fehdewesen der 70er- und 80er-Jahre, der erste Boss mit Wuschelkopf und Schlabberkleidung.

Nicht einen neuen Journalisten konnte Reents einstellen, als er im Frühjahr anfing. Was soll er machen gegen die Ostfixiertheit, gegen die DDR-Verklärung und die soßige Parteilichkeit im Blatt? In seiner Hilflosigkeit druckt Reents Dokumentationen. Setzt Fakten in kleine Infokästen neben die tendenziösen Artikel. Oder veröffentlicht gleich die ganze lange Liste deutscher Unternehmen, die sich an NS-Zwangsarbeitern bereicherten. Das wirkt – bis Chefredakteur Reents mal wieder Leserpost durchschaut: „Die kommentieren die Politik der PDS, nicht unsere Berichterstattung“, verzweifelt er regelmäßig.

Die kontraproduktive Nähe seiner Zeitung zu ihrem Eigentümer und geistigem Fixpunkt PDS hat Reents erkannt, ohne eine Lösung zu wissen. Vor der Berufung zum Chefredakteur arbeitete er als Pressespecher der PDS-Bundestagsfraktion und verkaufte erfolgreich Gregor Gysi. Der überredete Reents zum ND-Job.

„Das ND und die PDS sind wie siamesische Zwillinge – sie stützen und sie stören sich“ sagt Reiner Oschmann, jahrelang Chefredakteur des Neuen Deutschlands. Nicht nur Vorgänger von Jürgen Reents, sondern auch sein Nachfolger. Oschmann macht heute Reents' Arbeit für die Bundestagsfraktion.

Die Parteiführung wäre den Zeitungszwilling wohl gern los. Gregor Gysi versuchte schon in den Wendejahren, das ehemalige Zentralorgan der SED abzustoßen. Parteichef Lothar Bisky erzählt stolz, er habe seit seinem Amtsantritt 1993 nicht ein einziges Mal beim ND angerufen, um sich zu beschweren. Gibt es Streit im Blatt, ersuchen die Redakteure die Parteiführung regelmäßig um einen Schiedsspruch.

Bisky, Gysi und Co wissen diese Treue nicht zu schätzen. Neuigkeiten platzieren die PDS-Promis immer öfter bei der bürgerlichen Konkurrenz. Zum Ärger von Jürgen Reents, der weiß: Die Beschwerdebriefe kriegt er trotzdem.

Robin Alexander