Die Welt der Perversion

■ Ein eleganter und deftiger Nachschlag zur beliebten Wahrheit-Obszönitäten-Woche

Mein Lieblingsexperiment aus der Flirtforschung handelt von der Differenz im Senden und Rezipieren unbewusster Signale durch Männer und Frauen und geht so:

Man dreht einen Videofilm in einer schummrigen Bar. Eine attraktive junge Frau sitzt allein an der Theke, dreht sich Richtung Kamera und lächelt. Dieses Video wird repräsentativ ausgewählten männlichen Testpersonen vorgeführt, die sagen sollen, was das Lächeln, hätte es ihnen gegolten, zu bedeuten hat. Daraufhin antworten immer genau 87 Prozent der Männer, diese Frau wolle dringend von ihnen durchgebumst werden, während die restlichen 13 Prozent der Meinung sind, ein kräftiges Petting sei möglicherweise ausreichend.

Daraufhin wird erklärt, dass Männer zur Selbstüberschätzung neigen, dass bei Frauen alles irgendwie umgekehrt ist und dass die Schauspielerin in Übereinstimmung mit der Regieanweisung arglos gelächelt hat.

In solchen Momenten fühle ich immer ein schmerzliches Defizit, was meine ganz persönliche Repräsentanz in der Flirtforschung betrifft.

Neulich war ich auf einer Party, wo ich niemanden näher kannte und relativ gut abgefüllt gegen vier Uhr morgens mit der Gastgeberin zu küssen begann, in der üblichen Weise, indem wir unseren instinktiv wirksamen Triebregungen im Rahmen des gesellschaftlich Akzeptierten nachgaben.

Als irgendwann unsere Münder frei waren, sagte die Frau, dass „wir es aber wirklich mal miteinander treiben sollten“. Im weiteren Verlauf der Party bearbeitete meine Großhirnrinde diese Information und stellte folgende Hypothesen auf:

1a) Sie hat es ernst gemeint. Wir sollten es miteinander treiben.

1b) Na ja, aber doch nicht sofort.

2) Sie hat es ernst gemeint, aber mehr so, wie man unter anderen Umständen „Ich liebe dich“ sagt, ein gar nicht mir geltender, in der mir unbekannten Peergroup der Sprecherin geläufiger Satz zur Erzeugung von Irritation.

3) Sie hat es ernst gemeint, ist aber gerade nicht zurechnungsfähig (Alkohol-These).

4) Ich habe mich verhört. Wir sollten es wirklich nicht zu weit treiben.

5) Sie hat sich versprochen. Wir sollten einander wirklich mal schreiben.

6) Nein, nein, nein. Wir sollten es miteinander treiben. Sie hat aber vergessen zu sagen, was es ist.

7) Sie hat tierisch einen an der Waffel.

8) Oder ich.

Bei näherer und sehr gründlicher Überlegung würden die meisten unsensiblen Männer wahrscheinlich die These 1a für eine Ia-These und die richtige halten. Nach dem zehnten Bier jedoch kam mein Gehirn zu der auch für mich überraschenden und den Abend beschließenden Hypothese 9, ein solcher Satz in einer solchen Situation habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine immanente Bedeutung.

Als ich den Weg zum Hermannplatz einschlug, um den Nachtbus zu suchen, lief ein stämmiger, hinkender Mann neben mir her, der ebenfalls auf der Party gewesen, mir aber dort nicht aufgefallen war.

Mehr pflichtschuldig begann ich ein Gespräch. Er erklärte, dass er aus der SM-Szene komme wie die meisten anderen Partygäste auch, in einem Tonfall, in dem andere Leute sagen: Ich habe einen Blasenkatarr, wussten Sie das nicht? „Ich quäle gerne Leute“ war sein zweiter Satz, und er schien nicht abgeneigt, bei mir anfangen zu wollen. Ich entkam mit dem nächsten Taxi.

Eine Woche später traf ich die Gastgeberin wieder. Wir betranken uns, landeten lustig im Bett, und es stellte sich heraus, dass ich mich getäuscht hatte, wie vermutlich 100 Prozent repräsentativ ausgewählter Männer sich in derselben Situation getäuscht hätten. Richtig war Hypothese 6.

Was jetzt aber keine Kritik an den Ergebnissen der Flirtforschung sein soll.

Wolfgang Herrndorf