Lebensstilberater und Frauenschwarm

Günter Grass erhält heute den Literaturnobelpreis. Geehrt wird auch ein Mann, der wie kein anderer Intellektueller das Stilempfinden der Deutschen geprägt hat    ■ Von Jan Feddersen

Ein milder Sommerabend in Rendsburg. In einem renovierten Pferdestall warten Menschen auf einen Mann, der ihnen gleich vorlesen wird. Es sind überwiegend Frauen, die gekommen sind, um ihm ihre Aufwartung zu machen. Meist ältere Frauen – oder jedenfalls wenige, die noch keine zwanzig sind – wollen Günter Grass erleben, an sich heranlassen, ihm nah sein. Als er kommt, spricht niemand. Es liegt eine gelöste Spannung in der Luft. Er beginnt zu lesen.

Er liest nicht vom Blatt. Vielmehr spricht er zum Auditorium wie bei einer Plauderei, die nicht als Plauderei enden soll. Er hat eine tiefe Stimme, eine, die direkt aufs Zwerchfell geht. Seine Augen blicken auf eine Art ins Irgendwo, dass jede sich angeguckt fühlen kann. Dabei ist es beileibe kein erotischer Stoff, den er vorträgt. Vielmehr spricht er über Vermögenssteuer, atomare Technologie und Abschniebeknast. Aber diese Stimme ... . Bei der folgenden Signierstunde verbleiben die raren Männer im Hintergrund, während Günter Grass umringt wird wie ein Popstar von Groupies.

Vielleicht ist das auch ein Geheimnis des Erfolgs dieses Autors, der heute in Stockholm die wichtigste Auszeichnung aus der Welt der Literatur hält: dass er von den Frauen seiner Generation geliebt und begehrt wird. Und von Buchhändlerinnen.

Jeder Verlag weiß, dass die Verkäuferinnen die heimlichen Bestsellermacherinnen sind. Was sie – und nicht die Kritiker in den Medien – empfehlen, wird auch gelesen. Die Frauen in den Buchhandlungen waren schon immer Grass' wichtigste Alliierte. Das war Ende der Fünfzigerjahre so, als seine „Blechtrommel“ erschien, und das war erst recht so, als in den Achtzigerjahren „Die Rättin“ herauskam. Gerade dieser Roman, dem nicht nur Frank Schirrmacher von der FAZ („niemals hat ein Literaturnobelpreisträger ein schlechteres Buch zustande gebracht“) abgeneigt ist, haben die Frauen seiner Generation gemocht. Es ist ein Plädoyer für die Schönheit, die nicht im Pin-up-Stil ermessen werden kann, eine Plädoyer für Genuss und Lebensfreude.

Seine Leserinnen haben immer verstanden, dass sich im Grunde kein einziges Schriftstück aus seiner Feder nicht um die Frauen dreht. Um ihre Lust, ihren Geruch, ihre Bewegungen, ihre Körper, ihre Haut und ihre Sinnlichkeit. Schon in der „Blechtrommel“ kriecht ein Mann unter die weiten Röcke einer Landarbeiterin, um dort vor der Polizei Schutz zu finden. Ständig tropft und fließt und schleimt es in den Romanen Günter Grass'. Und nie liest es sich wie ein Männeralbtraum zur weiblichen Opulenz.

Rebell im Pullunder, bewunderter Bohemien

Auch in seinen Bildern ist der Maler immer der Suchende nach dem Weiblichen. Er zeigt Titten und Ärsche, Ärsche und Titten. Obsessiv nuckelt und zutzelt der Mann an ihnen herum, ohne die Objekte der Begierde zerstören zu wollen. Seine Figuren sind krumm und schief, sie haben Leiber, wie sie Menschen nur nach langen, harten Leben haben; sie sind rund und speckig, lüstern und belastet. Sie wirken roh und sinnlich.

Wie sah der Mann in den Fünfzigerjahren knackig aus. Es gibt ein Foto, auf dem trägt Günter Grass einen Strohhut. Darunter eine etwas wirre Frisur. Schwarze Haare, französisch geschnittener Schnauzbart. Eines seiner dunklen Augen scheint von der Blickrichtung abzuweichen. Ein neugieriger Junge, der seine Glut kaum zu zügeln in der Lage scheint – in der Rolle des Bohemien.

Das war wirklich ein anderer Mann. Kein Soldat, kein Feldwebel, kein Feingeist mit schmalen, blutleeren Lippen. Ein deutscher James Dean vielleicht. Nach eigenem Bekunden ein Danziger mit kaschubischer Mutter, die er liebte wie Oskar Matzerath die seine: mit heimlicher Bewunderung, Lust und Angst in einem in sich tragend, dass sie geschlechtlich nicht so sind wie er. Und weil Frauen in den allermeisten deutschen Wohnungen für die Inneneinrichtung zuständig sind, wurde Günter Grass zum Lebensstilberater der Nation.

Nicht dass er direkt Tipps gegeben hätte; das wäre in seiner Position als fine young cannibal wie auch als rebel with a cause so Mitte der Sechzigerjahre auch albern gewesen. Aber schaut man sich diesen alten, nach wie vor gänzlich ungreisen Mann an, erkennt man die antihonorige Stilgeschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Er trägt Pullunder und nur selten eine Krawatte. Sein Unterleib sieht nie eingeschnürt aus; selten scheint er sich in enge Jeans gequält zu haben. Nichts an ihm ist smart. Für die Stockholmer Zeremonie brauchte er einen Frack. Er musste sich einen leihen, weil er nie einen brauchte und auch nie wieder benötigt.

In seinen Behausungen ist kein Gelsenkirchener Barock, dafür umso mehr Holz, helles Holz, das vielleicht durch seinen Pfeifenqualm nachgedunkelt ist. Grass trinkt oft und gerne Rotwein. Nie käme man auf die Idee, dass es Saft ist, den er zu sich nimmt. Ein Stehpult findet sich in einem seiner Arbeitszimmer und jede Menge Bücher. Sie sind nicht ordentlich in Regale gestellt, sondern liegen, wie Lebensmittel nach dem Marktgang in der Küche, verstreut herum. Er lebt mit seiner (dritten) Frau Ute seit wenigen Jahren in der Nähe von Lübeck in einem Haus, das tatsächlich eine Villa ist, aber in seiner architektonischen Strenge konterkariert wird durch den Garten, den es umgibt. Das Gras wächst sommers hoch, Rasenmäher scheint es dort nicht zu geben. Obstbäume stehen auf dem Grund; sie sorgen dafür, dass das Grasssche Gelände zur Streuwiese wird. Die Bank wirkt schlicht und gebraucht, wie vom Trödler erstanden. Die Gartenpforte müsste nachgestrichen werden; der Maschendrohtzaun rostet. Der Teich in der Nähe ist voller Entenschnatter.

Obst, Nüsse und Wein statt Gummibärchen

Diese Mischung aus Natürlichkeit und Verfall ist das Grundmuster bundesdeutscher Dekorations- und Habitualitätswünsche. Patina ist erwünscht, selbst auf Neuem. Deshalb der Drang zum Besuch von Trödelmärkten, deshalb die obsessiven Sperrmüllrecherchen Anfang der Siebzigerjahre, als noch niemand wusste, dass Altes nicht schlecht sein muss und Schleiflackmöbel eine stilistische Sünde sind. Das Distinktionsprogramm verlangte Legerheit und Großzügigkeit in einem. Steife gesellschaftliche Anlässe waren verhasst; beliebt die großen Gelage in fröhlicher Runde, Kinder um den Tisch tollend. Grass selbst sprach einmal in einem NDR-Gespräch von „Brot, Obst, Nüssen, und Wein“ so, als handele es sich um eine Warenreligion. Undenkbar, dass er mit der gleichen Liebe etwa von „Aufbackbrötchen, Gummibärchen, Müsliriegel und Cola“ spräche.

Sein ganzer Habitus ist ein Programm gegen Steifheit und höfisches Zeremoniell, gegen Starre und kontrollierte Gefühle. Auch im politischen Bereich. Den diskutiert er im Übrigen am liebsten, wie es sich für einen Mann gehört, mit Männern. Was er so all die letzten vierzig Jahre gesagt und geäußert und gegeißelt hat, darf als ein Wunschprofil der meisten Menschen gesehen werden, die sich vor einem Jahr die rot-grüne Koalition ersehnt haben. Kein Zufall, dass einer wie er das Geld aus dem Literaturnobelpreis einer Stiftung zugunsten der Roma und Sinti zukommen lassen wird. Den ganz und gar Ausgegrenzten, die selbst im alternativen Milieu nur höfliche Solidarität ernten.

Aber das war keine Überraschung. Denn Grass hat nie etwas anderes gemacht, als Alarm zu schlagen und auf drohende Verhängnisse hinzuweisen. Ob nun die Gentechnik, atomare Verwüstung, der Fremdenhass: Stets waren durch ihn die Gefahren gewärtig, meist nur durch ihn. Im Grunde hat er freilich von all diesen Themen keine wirkliche Ahnung, aber er klang immer so, als müsste man ab sofort besonders gut auf sich und die Seinen aufpassen.

Strenger Patriarch im Kreis der Enkel

Das soll nicht missverstanden werden: Grass leidet nicht unter Verfolgungswahn. (Auch wenn es so schien, nachdem er leiseste Zweifel an seiner Würdigkeit nach der Nobelpreisbekanntgabe als Häme und Hatz wahrgenommen hatte.) Es trifft zu, wenn er sagt, dass ein Schriftsteller einen Ton anschlagen muss, der dräuende Stimmungen zu Gehör bringt. Diese Atmosphären zu beschreiben ist ihm immer glänzend gelungen. Sein verrissener Roman „Ein weites Feld“ ist nicht umsonst in der früheren DDR zum Bestseller geworden, nicht nur bei Frauen. Dass die einstige Ostzone mittlerweile mehr den blühenden Landschaften nach Kohlscher Vorstellung ähnelt als den Verwüstungen, die Grass dort erkennt, spielt gar keine Rolle: Es kommt ja nicht auf Zahlen und Fakten an, sondern auf die Befindlichkeiten der Menschen.

Aber das haben all die Kritiker Grass, von denen die schärfsten und gerechtesten in der FAZ beheimatet sind, womöglich nicht beachtet: Da ist einer, der tatsächlich rüde und zart zugleich eine Chronik der Nachkriegsjahrzehnte geschrieben hat – als seelischen Lagebericht. Wahrscheinlich spielt auch Neid eine Rolle. Dass da einer im Osten Erfolg hat, in Polen auch und ohnehin in Frankreich. Und dass da einer bei Frauen, die nicht nur schöne Sätze von ihm erwartet haben, Erfolg hat. Einem Martin Walser wird man dies nicht nachsagen, einem Enzensberger auch nicht. Beide waren und sind für das große Publikum auf viel zu traditionelle Art vernünftig und bürgerlich. Grass ist der einzige Mainstream-Literat der Bundesrepublik.

Kurz vor der Abreise nach Stockholm lieferte er im übrigen eine wunderbare Pointe seiner Lebenshaltung. Mit großer Entourage fuhr er in die schwedische Hauptstadt. Die ganze Familie? Nein, nicht alle Enkel durften mit. Diejenigen nur, die schon mal Opas Werke gelesen haben, konnten mit. Die anderen, so Grass, ganz Patriarch seiner Sippe, die nur Videospiele drauf haben, mussten zu Hause bleiben. Das war noch einmal ganz Ausdruck jener strengen Haltung, die in der amerikanisierten Moderne nichts als Entwertung zu erkennen vermag. Man wird diesen Mann nie bei McDonald's treffen.