Eine Vision mit hohem Preis

Dank gigantischer Kupfervorkommen ist Polkowice die zweitreichste Gemeinde Polens. Doch die Ausbeutung der Reviere macht die Menschen krank    ■  Aus Polkowice Gabriele Lesser

Sollte der Wall brechen, wird eine zwei Meter hohe Welle aus Schlamm alle Orte in der Umgebung unter sich begraben

Aus dem morgendlichen Nebel taucht ein futuristisch anmutendes Städtchen auf. Alles ist pastellfarben. Die Häuser sind lindgrün, blassgelb und hellblau. die Straßen hellgrau, rosa und beige. Auf einem Hügel steht ein himmelstrebendes Gebäude, aus dessen Glasturm sich drei knallbunte Plastikröhren spiralförmig nach unten drehen und wieder im Turm verschwinden. Der Eingang wirkt wie ein gewaltiger Schiffsbug. „Aquapark“ steht darüber. Von Zeit zu Zeit fährt eine Limousine vor. Ein Kind steigt aus, drückt einen aufgeblasenen Delfin oder Drachen an sich und verschwindet hinter den sich automatisch öffnenden Türen. Die meist jungen Frauen hinter dem Steuer warten, bis die Kinder im Gebäude verschwunden sind, werfen einen Blick in den Spiegel, ziehen das Lippenrot nach und starten erneut. Lautlos und wie in Zeitlupe rollen die Wagen ins Zentrum der Stadt.

Das niederschlesische Städtchen Polkowice (Polkowitz) ist die zweitreichste Gemeinde Polens. Im Boden des polnischen Kupferreviers wurden in den Sechzigerjahren gigantische Vorkommen an Kupfer und Silber entdeckt. In den nächsten drei Jahrzehnten sollen die letzten 1,3 Milliarden Tonnen des Edelmetalls gefödert werden. Seit der politischen Wende von 1989 haben auch die Arbeiter etwas von dem Reichtum, den sie Tag für Tag aus der Erde holen. Die Löhne wurden angehoben und liegen heute mit knapp 4.000 Zloty (1.800 Mark) weit über dem Landesdurchschnitt. Von den Steuern, die Europas größter Kupferkonzern KGHM Polska Miedz an den Fiskus abführen muss, fließen knapp 20 Prozent in das Stadtsäckel von Polkowice. Im letzten Jahr waren dies 97 Millionen Zloty (rund 49 Millionen Mark). Noch 1990, als alle Steuern nach Warschau gingen, hatte der Stadtrat von Polkowice nicht einmal genug Geld für die Straßenreinigung.

Das Bürgermeisteramt am „Markt“ scheint ein Designer der Spitzenklasse gestaltet zu haben – es wirkt hell, großzügig und funktional. Im Foyer steht das Modell des „neuen Polkowice“. Emilian Szanczyszyn, der seinen Arbeitstag schon um sieben Uhr begonnen hat, ist bereits auf dem Weg zu einer Bürgerversammlung. Der 36-Jährige beugt sich über das Treppengeländer, deutet auf einen Gebäudekomplex im Miniformat und ruft nach unten: „Das wird unsere Hochschule. Polkowice wird das Oxford Polens!“ Mit einem sportlichen Satz nimmt der Bürgermeister die letzten drei Stufen. Dann ist er für den ganzen Tag „im Terrain“ – wie es sein Stellvertreter ausdrückt.

In den Gängen des „Amtes“ duftet es nach „Chanel No. 5“ und „Pleasures for men“. Aus den Büros ist das leise Surren der Computer zu hören. An den Wänden hängt moderne Kunst. „Wir sind reich“, erklärt Mariusz Gmych unumwunden. „Wir kennen keine Geldsorgen. Wir sind die zweitreichste Gemeinde Polens.“ Der stellvertretende Bürgermeister schnipst ein Staubkörnchen von seinem Maßanzug. „Und hier in der Verwaltung sitzen nur junge, gut ausgebildete Leute. Wir kommen fast alles frisch von der Uni, haben ein, zwei Jobs hinter uns – und dann hat uns das Abenteuer Polkowice gepackt.“ Der 34-Jährige greift zum Handy und bestellt einen Chauffeur.

Die Beamten scheinen wie unter Strom zu stehen. Die elegant gekleideten jungen Männer und Frauen wirken wie Manager, nicht wie Staatsbedienstete. Auch Gmych hat einen vollen Terminkalender: 10 Uhr: „Treffen mit Einwohnern und Fahrradrowdies“; 12.30 Uhr: „Konferenz Sonderwirtschaftszone Polkowice, Infrastruktur-Investitionen, Strom, Wasser und Gas“, 15.00 Uhr: „Bauaufsicht“, 17.30 Uhr: „Fernsehdiskussion mit der Opposition“, 20 Uhr: „Abiturfeier an der Gesamtschule, Rede“.

Gmych sieht auf die Uhr. Der Zehn-Uhr-Termin naht. „Wir sind reich, ja. Aber mit Geld allein ist es nicht getan. Auch Bildung und Intelligenz reichen nicht. Ohne eine Vision geht gar nichts.“ Aus einer Schublade zieht er eine CD-ROM. „Das ist unsere Vision. Und wir alle hier wollen, dass diese Visionwahr wird. Dafür leben wir“, schließt er leicht pathetisch. Doch er fängt sich schnell, fährt nüchtern fort: „Wir bewegen hier jeden Tag Summen in einer Höhe von mehreren zehntausend bis hunderttausend Zloty. Jede Entscheidung birgt das Risiko eines Fehlers in sich. Damit müssen wir leben. Wer Fehler scheut, scheut das Risiko und erreicht nichts mehr.“ Er unterschreibt drei Briefe, die noch raus müssen, fährt aber ohne Pause fort: „Überall in Polen rätseln sie über das ,Phänomen Polkowice‘. Es ist der Wille. Wir alle wollen, dass die Vison Realität wird.“

In der Tür steht Jaroslaw Dabrowski, mit 26 Jahren einer der jüngsten Mitarbeiter im Gemeindeamt. „Das Auto steht bereit. Sie können fahren“, erklärt er kurz. Auch Dabrowski trägt einen Maßanzug. Auf einen Fingerzeig des stellvertretenden Bürgermeisters hin nimmt er die CD-ROM und schiebt sie in den nächsten Computer: Eine Simulation des „neuen Polkowice“ läuft ab. Zu den sphärischen Klängen von Computermusik schwenkt eine Kamera über die heute noch für Polkowice so charakteristischen Schachttürme zum „Aquapark“, dem modernsten Wasserpark Polens, und auf einen Campus mit Studenten und Professoren, dem künftigen „Oxford Polens“. Durch die Altstadt mit Cafés, Restaurants, Kneipen und etlichen Läden bummeln Müßiggänger. Touristen haben die Wahl zwischen mehreren Hotels und können im Reha-Zentrum des Aquapark sogar eine vom Arzt verschriebene Kur machen. Investoren finden in Polkowice ausgezeichnete Bedingungen vor. Die noch freien Gewerbegrundstücke werden vorgestellt, die Steuervorteile der Sonderwirtschaftszone Legnica (Lignitz) erklärt.

„In dreißig Jahren gibt es hier kein Kupfer mehr“, erklärt Gmych. „Und dann? Wir müssen beizeiten eine völlig neue Wirtschaftsstruktur aufbauen. Wir alle haben uns geschworen: Polkowice soll nie wieder arm sein.“ Das Telefon klingelt. Der stellvertretende Bürgermeister packt sein Köfferchen, setzt noch schnell einen Hut auf und sprintet dann die Treppe hinunter wie zuvor Emilian Szanczyszyn.

Jaroslaw Dabrowski hat es auch eilig. Er will bei VW ein paar Papiere abgeben und danach noch schnell zu einer der Kupfergruben. Auf dem „Markplatz“ dreht er sich einmal im Kreis und deutet auf die bonbonfarbenen Häuser. „Das ist unsere Altstadt, unser ganzer Stolz. Wir haben alles gesprengt und neu aufgebaut. Polkowice hat die jüngste Altstadt Polens.“ Er schließt das Auto auf. „Wir mussten das tun. Der Bergbau hat die Erde ausgehöhlt, so dass die Häuser absackten. Ein Wohnblock aus den Sechzigerjahren ist mitten durchgebrochen. Den haben wir dann auch gleich gesprengt.“ Zwei weitere Plattenbauten sollen demnächst verschwinden. Die meisten Häuser konnten allerdings stabilisiert werden. „In den letzten Jahren haben wir fast alle Häuser in Polkowice erdbebenfest gemacht, neue Fenster eingebaut und in fröhlichen Farben gestrichen. Pastelltöne – das wirkt beruhigend und zugleich optimistisch.“

Dabrowski fährt an den bunten Häusern vorbei, an gepflegten Grünanlagen, fantasievollen Abenteuerspielplätzen und kommt in eine Villengegend. „Hier wohnen unsere Rentner“, sagt der 26-Jährige. „Das ist eine alte Arbeitersiedlung.“ Die wenigen Menschen auf der Straße wirken kaum älter als 60 Jahre. „Sie sind 50“, sagt Dabrowski und schweigt. Hinter der letzten Villa fügt er hinzu: „Hier wird niemand richtig alt.“ Dann schweigt er wieder.

Die Sonderwirtschaftszone rund um Polkowice lockt immer mehr Investoren an. Nach einer kanadischen Fabrik, die Fertighäuser herstellt und 43 Millionen Dollar in dem 25.000-Einwohner-Städtchen investierte, zog die deutsche Firma Winckelmann mit einer Investition von 24 Millionen Mark ins polnische Kupferrevier. Sie stellt Heißwasserboiler her. Im August dieses Jahres hat VW ein Motorenwerk für über 200 Millionen Mark in Betrieb genommen. Bei voller Auslastung sollen hier 650 Menschen jährlich rund eine halbe Million Dieselmotoren herstellen. Dabrowski gibt einen dicken Umschlag ab.

„Mit Geld allein ist es nicht getan. Auch Bildung und Intelligenz reichen nicht. Ohne eine Vision geht gar nichts.“

Dann fährt er zu einer der vier Kupfergruben. Dort will er seine Frau abholen. Sie ist Juwelierin und arbeitet auf individuelle Bestellung. Die Bergleute in den Kupfergruben sind gute Kunden. „Insgesamt arbeiten bei Polska Miedz 37.000 Menschen“, erzählt er. „Die meisten schwemmen Kupfer unter Tage aus. Das ist eine mittelgroße Männerstadt, die da jeden Tag in die Erde kriecht. Mein Vater hat das auch gemacht. Aber wir jungen Leute wollen das nicht mehr.“ Die Kantine ist hell, überall stehen Blumen und Pflanzen. Es duftet nach Pilzsuppe, Schnitzel, Rasierwasser und Seife. Fast alle Männer tragen einen Anzug und blütenweiße Hemden. Aus den Lautsprechern dringt eine Klaviersonate von Tschaikowsky.

Ewa ist hochschwanger. Sie lächelt ihrem Mann Jaroslaw zu: „Zwei Ringe, ein Collier und ein Medaillon.“ Er nickt: „Sehr gut. Schaffst du das vor deiner Abreise?“ Ewa schüttelt den Kopf: „Ich mache nur noch die Ringe fertig. Alles andere nehme ich mit.“ Ewa will ihr Kind in Krakau zur Welt bringen. In einem Monat ist es so weit, doch die junge Frau will schon in zehn Tagen aufbrechen. „Der Abschied wird mir schwerfallen. Aber es muss sein. Kleinkinder sind am meisten gefährdet.“ Sie seufzt: „Ein Jahr ist eine lange Zeit.“ Jaroslaw umarmt sie: „Komm“, sagt er, „lass es uns hinter uns bringen! Der Abschied wird dir leichter fallen.“

Die Fahrt dauert keine halbe Stunde. Die Landschaft wird immer kahler. Am Ende der Straße erhebt sich ein Berg, eine Art Plateau. Ein Hubschrauber steigt auf, verspüht eine schwarze Tinktur und verschindet wieder. Am Rande des Plateaus laufen Menschen in Overalls hin und her. Der Boden ist glitschig. Und dann sieht man Schlamm. Nichts als Schlamm. Bis an den Horizont reicht das Meer aus Schlamm und Wasser. Aus dicken Rohren quillt immer mehr graue Masse in den See. Es ist zermalener Fels aus den Kupfergruben. Das Edelmetall wird nicht aus dem Stein gehauen, sondern ausgeschwemmt. Über 95 Prozent der Abbaumasse fließt in die „Eiserne Brücke“. Der Name rührt von dem Flüßchen her, das sich hier einst durch die Landschaft schlängelte.

„Im Sommer, wenn die Wächter nicht aufpassen, verwandelt sich dieses Schlamm-Meer in eine riesige Staubwüste. Der Wind bläst den Staub bis in die Wohnungen hinein.“ Ewa schüttelt sich. „Das sind Schwermetalle. Die Kinder haben Asthma, die Erwachsenen Hautallergien und mysteriöse Krankheiten.“ Der Wall ist 37 Meter hoch und umfasst 1.460 Hektar Schlammsee. Jedes Jahr steigt der Pegel um 1,2 Meter. Im Jahre 2002 wird die Eiserne Brücke aus 350 Millionen Kubikmeter Schlamm bestehen. Dann muss der Wall erhöht werden. „Wir üben regelmäßig die Katastrophe“, sagt Jaroslaw Dabrowski. „Sollte der Wall brechen, wird eine zwei Meter hohe Flutwelle aus Schlamm alle Ortschaften in der Umgebung unter sich begraben. Und dann müssen alle wissen, was zu tun ist.“ Ewa wirft noch einen letzten Blick auf die Schlammrohre: „Das tue ich meinem Kind nicht an. Ich verlasse Polkowice.“