Mina: Wie man eine Diva wird und es auch bleibt

Seit einundzwanzig Jahren hat sie sich nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Und ist trotzdem – oder gerade deshalb – zum ultimativen Musikstar Italiens geworden: Mina. Gerade ist wieder ein neues Album der unsichtbaren Sängerin erschienen Von Bianca Maria Battaggion und Carla Tabaglio

Ihren Gewohnheiten getreu bringt Mina auch dieses Jahr wieder kurz vor Weihnachten eine neue Schallplatte auf den Markt: „N.O.“. Mina singt Zero – Renato Zero, den extravaganten und provokanten Liedermacher der Siebziger- und Achtzigerjahre, bekannt für seinen reichlich düsteren Look – schwarze Kleidung und Brille, mondbleiches Gesicht –, der seine Fans stets mit „Liebe Mäuschen“ begrüßte.

Die Grande Dame der italienischen Musik erweckt mit Renato Zero eine Figur à la Almodovar wieder zum Leben, die einst als grenzüberschreitend galt und heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. Und so wird Mina selbst zur Fürsprecherin der Ausgegrenzten. Das jüngste Album zeugt einmal mehr vom stimmlichen Spektrum der „Tigerin von Cremona“; neu sind der Eklektizismus und die Spontaneität von Zero, die sich in der Vielfalt der Stimmungen in den Liedern spiegeln. Bedeutet „Mina singt Zero“ („Zero“ übersetzt als „Null“) womöglich: wieder bei Null anfangen, die Identität und Vergangenheit annullieren, um dem neuen Jahrtausend entgegenzugehen?

Liest man rückblickend die Biografien von Diven, erscheint alles als Vorzeichen. Wie bei jeder anderen anerkannten Diva entbrannte auch über Minas Debüt, dessen vierzigster Jahrestag letztes Jahr in großem Stil gefeiert wurde, eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Orten, die alle das Privileg der Sängertaufe für sich beanspruchten: Erlebte die Diva ihre musikalische Geburt in Rivarolo del Re, in Rivarolo Mantovano oder in Forte dei Marmi in der Versilia? Wir votieren für die Versilia, denn so lässt sich Minas Biografie noch eindeutiger als Schicksal lesen: Die Versilia hat nicht nur viele Triumphe Minas erlebt, sondern 1978 auch ihr letztes Konzert.

Alle sind sich einig über die Einzigartigkeit ihrer Stimme, die noch heute drei Oktaven umfasst. Außer Frage steht die angeborene musikalische Intuition Minas, die ihr die sonst unerlässliche Gesangsausbildung ersparte. Von Barbra Streisand und Liza Minelli, mit denen sie oft verglichen wird, unterscheidet sich Mina jedoch durch die Breite ihres Repertoires: Die zu Beginn ihrer Laufbahn als urlatrice (Heulerin) bezeichnete Sängerin schlägt bald eine melodischere Linie ein. In ihrer langen Karriere behauptet sie sich auch als Interpretin von Klassikern der napoletanischen und der amerikanischen Musik, im Jazz und in südamerikanischen Rhythmen. Die knappste und zugleich umfassendste Eloge stammt von Louis Armstrong: „Sie ist die größte weiße Sängerin der Welt.“

Mina hebt die traditionelle canzonetta aus den Angeln, indem sie deren ideologisch affirmativen Charakter zunichte macht. Es entsteht eine verfremdete, episierte canzonetta, die die Relativität der Dinge und des gesungenen Titels selbst vermittelt. Die Melancholie, die von Minas Produktion allmählich Gestalt annimmt, hat hier ihre Wurzeln. Die Mina der Anfänge, ihre Art zu singen, die Noten zu verdoppeln und den Rhythmus plötzlich zu verstärken, erinnert an Louis Armstrong und seinen „Tiger Rag“. Dies gilt – zusammen mit ihrer überdurchschnittlichen Größe, ihrem Schreien, ihrer Unabhängigkeit und ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Urteilen anderer – als Grund dafür, warum ihr der Beiname „Tigerin von Cremona“ verliehen wurde.

Der immense Erfolg Minas ist ohne das Fernsehen undenkbar. Es bestimmt die Koordinaten, in denen neue Persönlichkeiten geboren werden: Will man Erfolg haben, muss man seinen Körper zur Schau stellen. Und Mina sieht nicht nur gut aus; durch Kleidung, Make-up und immer wieder neue Frisuren gelingt es ihr, eine Persönlichkeit zu schaffen, die von Originalität und ständiger Metamorphose lebt – zu ihrer eigenen Freude und der des Publikums.

Italien in den Sechzigerjahren: Aus einem vorwiegend agrarischen Land wird eine Industrienation. Zugleich beginnen die alten autoritären Modelle innerhalb der Familien zu bröckeln, zuerst die fest definierten Beziehungen zwischen Alten und Jungen, später die zwischen Männern und Frauen. Schon auf Grund ihrer Herkunft – der Vater ist ein mittelständischer Unternehmer in der Provinz – scheint Mina prädestiniert, das sich im Wandel befindliche Italien jener Zeit zu verkörpern. 1963 bekommt Mina ein Kind von dem verheirateten Schauspieler Corrado Pani. Heutzutage würde das kein großes Aufsehen erregen; im bigotten Italien von damals verbannte das staatliche Fernsehen RAI Mina für ein Jahr vom Bildschirm.

Die Aufmerksamkeit, die ihr die Presse zuteil werden lässt, schwankt zwischen Vampirisierung und Verurteilung. Das Publikum scheint auf ihrer Seite zu stehen, schätzt ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihre teuer erkaufte Unabhängigkeit. Ein Band der Zuneigung entsteht. Ein Jahr später kommt Mina ins Fernsehen zurück, eilt von Erfolg zu Erfolg, ihr Look wird Mode: dunkel geschminkte Augen, rasierte Augenbrauen, Schönheitspflästerchen, ungeschminkte Lippen, enge Halskettchen, Minirock, immer neue Frisuren und Haarfarben.

Ihrem Privatleben ist weniger Erfolg beschieden. Die Liebesbeziehungen sind von kurzer Dauer, das Leben stellt sie auf harte Proben: der Tod des Bruders und des Ehemannes, der Bankrott der elterlichen Firma, Steuerschwierigkeiten, der darin begründete Umzug in die Schweiz, Gesundheitsprobleme und eine starke Gewichtszunahme, die sie so verändert, dass ihre legendäre Sicherheit auf der Bühne verloren geht. Trauer und Schmerzen stärken jedoch die Mechanismen der Identifikation, man hebt Mina über die Grenzen eines normalen Schicksals hinaus – erste Voraussetzung, eine Diva zu werden.

Im Juni 1978 beschließt Mina, ihr zwanzigjähriges Bühnendebüt mit einem Konzert zu feiern. Sie beendet den Abend mit dem Titel „Non gioco più“, ein verschlüsselter Hinweis auf ihre weiteren Pläne: „Ich spiele nicht mehr / ich gehe / ich spiele wirklich nicht mehr. / Das Leben ist ein ungemachtes Bett / ich nehme, was ich finde / und lasse, was ich nahm, / hinter mir zurück.“ Seit jenem Augenblick ist Mina von der Bühne verschwunden, der Mythos Mina aber entstanden. Die Sängerin wählt die Stille, die lediglich durch Indiskretionen der Presse und ein oder zwei Schallplatten pro Jahr unterbrochen wird. „Schweigen und Trauer sind eine machtvolle Kombination, [...] denn sie schalten die dunkleren Gefühle aus, die reiche und scheinbar mächtige Frauen sonst hervorrufen könnten – Neid, Angst, Wut“ (Joan Smith). Die Absicht Minas, nur noch entmaterialisierte Stimme zu sein, nur noch Spuren zu hinterlassen, ist offensichtlich.

Minas Plattencover geben uns eine virtuelle, mit Hilfe von Computergrafik konstruierte Mina zurück. Immer wieder sieht man ihr fotografiertes, gezeichnetes oder stilisiertes Gesicht, überblendet von Kunstwerken. Eine andere Gruppe thematisiert sexuelle Zweideutigkeiten: Unvergesslich das Foto von Mina mit einem langen Bart, wie Leonardo Da Vinci, oder die irritierende Abbildung von Minas Kopf mit einem langen schwarzen Zopf auf einem nackten, männlichen Torso.

Die Coverbilder lassen sich als Variationen über die selbstironische Femme fatale lesen, die sich über bestimmte Topoi der weiblichen und männlichen Kultur lustig macht; sie lassen sich auch als „Wunsch interpretieren, jeder festen bildlichen Definition seiner selbst zu entfliehen, um sich den eigenen 'Getreuen‘ in immer neuer und ungreifbarer Erscheinung hinzugeben“ (Romy Padovano). Unschwer lässt sich in einigen Bildern der virtuellen Mina und im Frauenbild ihrer Lieder der Archetypus der Grande Madre Mediterranea wiedererkennen, Symbol des Schutzes und der Fruchtbarkeit.

Seit Mitte der Sechzigerjahre bevorzugt Mina Themen, die sich mit der Analyse, der Mikrophysik des weiblichen Schmerzes auseinandersetzen. Ihre Protagonistinnen versuchen, in einer neuen Art und Weise mit der Männerwelt zu leben. Auch wenn Mina sich nie besonders politisch engagiert hat, schwingt in ihren Liedern doch die in den Siebzigerjahren stattgefundene radikale Wandlung der Moralvorstellungen und Rollenverständnisse mit. Die epochal anmutende Öffnung hin zu tabuisierten Themen zeigt sich besonders in dem Titel „L'importante è finire“ (1974), der die Geschichte einer sexuellen Beziehung in drastischer, alle gültigen Normen überschreitender Offenheit erzählt. Dem ausschließlich konventionelle Phrasen von triefend süßer Romantik dreschenden Mann steht die ironische und distanzierte Frau gegenüber, die die Leere dieser Worte offenlegt und weiß, was sie von einem Mann will.

Die von den Protagonistinnen ihrer Lieder demonstrierte Autonomie und ihr Selbstbewusstsein wurzeln in den privaten und beruflichen Entscheidungen Minas: Sie benötigte nie Vorlagen für ihre Selbstinszenierung auf der Bühne, hatte nie einen Pygmalion. Ist Mina wirklich eine Diva? Die ikonische Faszination rückt sie in die Nähe der Magnani, der Mangano und der Loren, die auf internationaler Ebene weitaus berühmter sind. Im Vergleich zu ihnen muss man jedoch Folgendes berücksichtigen: Die Beziehung zwischen Mina und ihrem Publikum wird von Zuneigung bestimmt, und nur die Zuneigung ist in der Lage, die Distanz zwischen der Diva und ihren Bewunderern aufzuheben. Mina flößt keine Demut, keine Unterwürfigkeit ein, sie ist nicht auf Wettbewerb aus, sondern vertrauenerweckend und sympathisch.

Ihr Mythos eint nunmehr drei Generationen von Fans. Sie ist, unter anderem, eine geschickte Unternehmerin, nicht nur was ihre Plattenfirma betrifft, sondern auch die Vermarktung ihrer Person: Mit dem Rückzug von der Bühne hat sie ihr Bild auf dem Gipfel des Erfolgs geradezu eingefroren. Ihre Platten bestätigen stets, dass Mina ein Phänomen jenseits des etablierten Starsystems ist. Franca Valeri, eine bekannte italienische Schauspielerin: „Seit Mina die Bühne verlassen hat, repräsentiert sie unsere Zeit einerseits als Ikone, andererseits durch ihre Lieder, die immer eine avantgardistische Funktion haben, innovativ und unvoreingenommen sind. Eine Künstlerin, die eine große Frau ist, eine große Künstlerin ist; das ist Mina, die Idee von der italienischen Frau.“

Bianca Maria Battaggion und Carla Tabaglio leben als freie Autorinnen in Berlin. Eine Maxiversion ihres Textes ist enthalten in Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart, das dieses Jahr dem Thema „Diven“ gewidmet ist (Rotbuch, Hamburg 1999, 160 Seiten, 22,80 Mark)

Übersetzung: Sabine Zangenfeind; die kleinen Fotos haben uns Bear Family Records zur Verfügung gestellt