Die lästigen Opfer

Günter Grass spendet einen Teil seines Literaturnobelpreisgeldes den Sinti und Roma. Und auch die Mauer von Ústi (Tschechien) musste verschwinden. Doch das ändert nichts daran, dass die „Zigeuner“, obwohl sie Opfer des Holocaust wurden, ein Volk ohne Fürsprecher geblieben sind Von Silke Mertins

Es war nur ein Missverständnis. Davon sind die meisten in der tschechischen Industriestadt Ústi auch jetzt noch überzeugt. Denn die Mauer sollte doch lediglich ein Lärmschutz sein, eine bauliche Lösung für den sozialen Konflikt zwischen Reihenhausbewohnern und 39 Roma-Familien, die von der Stadt in den gegenüberliegenden Sozialwohnungen untergebracht worden waren. Weil Tschechien jedoch EU-Mitglied werden möchte und sich Schlagzeilen über ein neues Ghetto für Zigeuner dabei gar nicht gut machen, wurde die Mauer wieder abgebaut.

Solche Missverständnisse für ein osteuropäisches Phänomen in den Zeiten des Postkommunismus zu halten, käme dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass sicher nicht in den Sinn. „Zigeuner werden heute in Deutschland abermals als asoziale Elemente eingestuft und sind permanent der Gewalt ausgeliefert“, sagte er in gewohnt drastischen Worten.

Die engagierte Zuneigung, die er den Sinti und Roma entgegenbringt, kam nicht von allein. „Auch mich hat erst ein Lehrer mit der produktiven Unruhe der allerorts geschmähten Zigeuner bekannt machen müssen.“ Ein großer Teil der 1,8 Millionen Mark, die Grass gestern bei der Literaturnobelpreisverleihung bekam, wird er einer Stiftung zu Gunsten der Sinti und Roma spenden. Denn ihn regt auf, dass es „keine politisch gestaltende Kraft“ gibt, die sich für sie stark macht.

Grass' Klage lässt sich nicht bestreiten. Es findet sich tatsächlich keine politisch gestaltende Kraft. Niemand mit politischem Einfluss, der sich berufen fühlte, sich mit Leidenschaft und Nachdruck für die Aufnahme von Roma-Flüchtlingen aus Rumänien einzusetzen, wo allein zwischen 1991 und 1994 mindestens dreißig pogromartige Ausschreitungen bekannt wurden. Keine einzige relevante Institution, die wegen der Mauer von Ústi zu Demonstrationen vor den tschechischen Botschaften aufgerufen hätte. Und auch kein medialer und von Protesten autonom Empörter begleiteter Aufschrei, als der Berliner CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky ein Holocaustmahnmal für Sinti und Roma in Reichstagsnähe mit den Worten kommentierte: „Wir müssen doch noch erhobenen Hauptes durch die Straßen gehen können.“

Wie lässt sich die Gleichgültigkeit erklären? Viele ältere Deutsche, sagte Salomon Korn kürzlich in einem Interview, könnten bis heute „das Wort 'Jude‘ nicht ohne Herzklopfen aussprechen“.

Ungewollt und in einem gänzlich anderen Zusammenhang weist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt auf den Kernpunkt des Problems: Die Deutschen haben kein Herzklopfen, wenn sie das Wort Zigeuner aussprechen. Die meisten, ältere wie jüngere, empfinden weder Scham noch Schuldbewusstsein. Sie haben einfach kein Interesse.

„Wir lassen unsere Opfer nicht respektlos behandeln und herumschubsen“, sagte Romani Rose, der Chef des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, nachdem der Bundestag das allein den jüdischen Toten gewidmete Holocaust-Mahnmal beschlossen hatte. Zwei Bundestagsabgeordnete und Andreas Nachama, den Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, hatte Rose an seiner Seite, als er auf einer Grünfläche südlich des Reichstags ein eigenes Mahnmal für die halbe Million ermordeter Sinti und Roma verlangte. Doch die vereinzelten Solidaritätsbekundungen wie die von Nachama, Grass und der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ inmitten von Ablehnung und Schweigen machen nur dies deutlich: Die Sinti und Roma sind im Wesentlichen die einzigen Fürsprecher der Sinti und Roma.

„Es lebt sich heute für einen assimilierten Juden in der Bundesrepublik nicht schlecht“, schreibt der Philosoph Ernst Tugendhat in seinem Buch Ethik und Politik. „Aber nun versuche ich mir vorzustellen, wie das Leben für mich aussähe, wenn die Vorurteile gegenüber den Juden nach Auschwitz ebenso ungebrochen fortlebten wie die Vorurteile gegenüber den Zigeunern.“ Die „Zigeuner“ würden noch heute als Untermenschen zwar nicht offen bezeichnet, aber empfunden und behandelt. „Warum“, fragt sich Tugendhat, „konzentrierte sich die sogenannte Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik so weitgehend auf die Juden, warum wird über das Schicksal der Zigeuner unter den Nazis hinweggesehen?“

Sicher, bei den Sinti und Roma fehlte der internationale Druck, und sie waren politisch schlecht organisiert. Auch waren Überlebensberichte wie das erst 1998 publizierte Buch „Das Brennglas“ des Sinto Otto Rosenberg, Vater der Schlagersängerin Marianne Rosenberg, selten.

Den Deutschen fiel es aber auch leichter, sich von der Judenverfolgung zu distanzieren. Nicht nur, weil die jüdische Bevölkerung angepasster war, wie Tugendhat betont. Sondern auch, weil die Bildungselite, die den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt, unter den jüdischen Opfern viele Identitifikationsfiguren findet; Wissenschaftler, Ärzte, Richter, Künstler, Revolutionäre. Schließlich waren die prägendsten Männer der letzten 2.000 Jahre – Jesus, Marx, Freud und Einstein – alle jüdisch.

Verantwortlich für die Marginalisierung des Völkermordes an den Sinti und Roma ist aber auch die Geschichtsschreibung. Die Wissenschaftler interessierten sich nicht für die „Zigeuner“, weil auch Hitler sich nicht für sie interessierte. Michael Zimmermann kritisiert in seinem Aufsatz „Die nationalsozialistische 'Lösung der Zigeunerfrage‘ “: „Vor allem jene Historiker, die Hitler und dessen Antisemitismus ins Zentrum der Forschungen zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik rückten, vermochten ihre Aufmerksamkeit kaum auf den Mord an den Zigeunern zu richten, hatten sie sich doch vom Blick auf den Diktator und damit in gewisser Weise auch vom Blick des Diktators abhängig gemacht.“

Die Frage, warum Sinti und Roma der Massenvernichtung zum Opfer fielen, ist aber gerade deshalb besonders bedeutsam, weil sie in Hitlers Weltsicht offenbar keine große Rolle spielten.

Zunächst einmal hatten die Nationalsozialisten Mühe, die „Zigeuner“ als „nicht-arisch“ zu klassifizieren. Denn ursprünglich aus Indien stammend, müssten sie ja als „arisch“ gelten. Dennoch wurden sie sofort nach der Machtergeifung Opfer verschärfter rassistischer Verfolgung, sei es durch verschiedene Erlasse zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“, durch Internierung in speziellen „Zigeunerlagern“, durch Zwangssterilierung oder die Nürnberger Gesetze. Viele wurden in den Dreißigerjahren schlicht als „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ verhaftet und eingesperrt.

Die führenden Rassehygieniker, darunter vor allem der eifrige Robert Ritter, behalfen sich schließlich damit, dass sie neunzig Prozent der „Zigeuner“ zu „Mischlingen“ und damit zum Hauptangriffsziel erklärten. Später, in dem Himmler-Erlass von 1942, wurden Sinti und Roma in drei Gruppen aufgeteilt: in eine kleine Gruppe „reinrassiger“ und „im zigeunerischen Sinne gute Mischlinge“, die von der KZ-Haft verschont werden sollte; in eine Gruppe „sozial angepasster Mischlinge“, die für Zwangssterilisationen vorgesehen war; und den Rest der „zigeunerischen Personen“, die deportiert wurden.

Diese feinsinnigen Differenzierungen halfen den Betroffenen in der Wirklichkeit meist wenig. Die für sie zuständige Kripo und die kommunalen Verwaltungen nutzten ihre Entscheidungsspielräume, um ganze Regionen „zigeunerfrei“ zu machen. Da die Gesetze auf entsprechend starke Ressentiments in der deutschen Bevölkerung trafen, „fanden sie kaum einmal Helfer oder Verbündete“, so der Historiker Zimmermann. „Gegen die Deportationen erhoben sich noch erheblich weniger Stimmen als gegen diejenige der Juden.“

Ebenso wenige Stimmen erhoben sich in der Nachkriegszeit zu ihren Gunsten. Der Bundesgerichtshof entschied sogar 1956, dass die „Zigeuner“ vor 1943 nicht aus rassistischen Gründen, sondern auf Grund ihrer „Asozialität“ von den Nazis verfolgt worden seien. Denn die Reichskriminalpolizei war die Verfolgungsinstanz der „Zigeuner“. Das Urteil wurde zwar später revidiert, aber der Makel blieb. Erst 1982 erkannten der damalige Kanzler Helmut Schmidt und der Oppositionsführer Helmut Kohl den Völkermord an.

In der Frage, ob die „Zigeuner“ verfolgt wurden, weil sich die NS-Mordmaschinerie verselbständigt hatte, oder aus rassistischer Motivation, ist die Geschichtswissenschaft sich aber bis heute nicht einig; eine Auseinandersetzung, die unsinnig erscheint, weil die „Zigeuner“ nach Nazi-Lesart ja gerade auf Grund ihrer „Rasse“ als asozial galten.

Die Verfolgung der Juden hat sich, wenn auch zögerlich, im deutschen Bewusstsein als offensichtliches Unrecht eines paranoiden Führers und seiner Anhänger verfestigt. Bei der der „Zigeuner“ hingegen wird zwar die Konsequenz, der Massenmord, verurteilt, aber nicht die Begründung. Zigeuner und Asozialität sind in der Öffentlichkeit noch immer ein untrennbares Wortpaar. Die ungeliebte Minderheit tritt allenfalls als Alltagsstörung in Erscheinung; mit Flüchtlingen, Bettlern und Kriminalität. Oder aber als antizivilisatorisches Gegenbild, als Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft.

Wenig überraschen kann deshalb, dass eine große Zahl der Sinti und Roma, darunter viele Gastarbeiter aus dem früheren Jugoslawien, ihre Identität lieber verschweigen. Denn die „Zigeuner“ sind ein Volk ohne Fürsprecher geblieben.

Silke Mertins, 34, taz-Tagesthemaredakteurin, hat historische Ethnologie und Politik studiert. Mit Täter-Opfer-Beziehungen beschäftigte sie sich auch in dem Buch „Zwischentöne – 20 Porträts jüdischer Israelinnen“, Fischer, Frankfurt a. M. 1996, 200 S., 14,90 Mark