Vom Verräter zum Bruder?

Joachim Gauck und André Brie haben noch nie miteinander gesprochen. Die taz hat den Stasibeauftragten sowie den PDS-Reformer und ehemaligen Stasimitarbeiter an einen Tisch gebracht. Das Streitgespräch moderierten Jan Feddersen, Jens König und Patrik Schwarz

Herr Brie, Sie haben sehr lange als IM für die Stasi gearbeitet. Jetzt sitzen Sie Herrn Gauck gegenüber, dem Herrn über die Stasiakten. Zittern Sie?

Brie: Nein, ich bin neugierig.

Worauf?

Brie: Auf Herrn Gauck. Mich interesssiert, wie ein Mann seiner Herkunft über die DDR denkt, über die PDS und über seine eigene Geschichte.

Herr Gauck, fühlen Sie sich Herrn Brie moralisch überlegen?

Gauck: Nein, wenn ich mit Leuten persönlich rede, fühle ich mich nicht moralisch überlegen.

Manchmal wirken Sie jedoch so.

Gauck: Ich bin es aber nicht. Ich möchte nur nicht, dass nach dem Ende einer Diktatur die Debatte unterbleibt. Diese muss deutlich sein, nicht verschleiernd oder romantisch.

Sitzen Sie beide erstmals gemeinsam an einem Tisch?

Brie: Ja.

Gauck: Für mich ist es überhaupt das erste Mal, dass ich mit einem Politiker, der auch für die Staatssicherheit gearbeitet hat, zusammen sitze und rede. Das fällt mir nicht leicht.

Warum reden Sie mit denen nicht?

Gauck: Weil das missverstanden werden könnte oder weil es die Auseinandersetzung behindert. Ich habe mich hier weder mit de Maizière getroffen, noch war ich mit Gysi in einer Talkshow. Ich finde es in meinem Amt problematisch, mit Personen, die vom Ministerium für Staatssicherheit geführt wurden, öffentlich aufzutreten.

Warum machen Sie bei Herrn Brie eine Ausnahme?

Gauck: Ich möchte ihm damit meinen Respekt bekunden. André Brie hat, was den Umgang mit seiner Vergangenheit betrifft, sicherlich nicht alles richtig gemacht. Er hat sich ein bisschen viel Zeit genommen, bevor er 1992 zugab, für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben. Aber nach seinem Outing hat er Konsequenzen gezogen, die viele andere nicht gezogen haben. Er hat nicht behauptet, er hätte keinem geschadet. Außerdem finde ich seine Arbeit und die anderer Reformer sehr interessant. Manchmal möchte man die ja trösten.

Brie: Das wäre das Problematischste, was uns passieren könnte, wenn Sie uns trösten würden.

Seit der Wende sind jetzt zehn Jahre vergangen, und Sie reden erst jetzt miteinander. Was hat Sie bisher voneinander fern gehalten?

Gauck: Unsere Wege haben sich bereits im Herbst 1989 getrennt. Ich gehörte damals zur Demokratiebewegung in Rostock. Viele meiner Freunde fanden spannend, was plötzlich alles in der SED passierte. Mich haben einfache Leute aus dem Volk von diesem Weg abgebracht. Die haben gesagt: Was die SED macht, ist uns egal, diese Partei hat die Zeit verschlafen. Die Leute hatten recht.

Wenn Sie sich im Oktober 1989 zufällig privat begegnet wären, hätten Sie sich dann etwas zu sagen gehabt?

Gauck: Wir wären wahrscheinlich zusammen demonstrieren gegangen.

Brie: Die Kritik an der DDR-Realität und an der SED-Führung hat einen Teil der Genossen und die Oppositionellen miteinander verbunden. Ab November 1989 zerfiel das dann aber wieder.

Gauck: Und zwar genau am 4. November, als Stefan Heym, Christa Wolf und andere den Aufruf „Für unser Land“ initiierten. Ich hielt diesen Aufruf für romantisch. Da träumten die Intellektuellen und die alte Elite von einem dritten Weg. Sie taten schon wieder so, als wüssten sie, wo es lang geht. Was für eine Arroganz, sich vor das Volk hinzustellen und zu sagen: Ihr wollt nur Bananen, aber wir sind für unser Land, wir bleiben hier und machen einen neuen Sozialismus.

Brie: Einige SED-Reformer haben in den späten Achtzigerjahren Konzepte zur Reform der DDR entwickelt. Aber wir kamen mit unseren Ideen einige Jahre zu spät. Das Leben hat uns bestraft.

Gauck: Zu Recht. Sie kennen doch den Witz: Was passiert, wenn zehn DDR-Ökonomen nach Ägypten gehen? Zehn Jahre lang passiert nichts, im elften Jahr wird der Sand knapp. Und von den Leuten sollten jetzt die großen Ideen für einen dritten Weg kommen? Es kam nichts.

Warum war zwischen den Reformern in der SED und den Bürgerrechtlern keine Gemeinsamkeit herzustellen?

Brie: Der erste Oppositionelle, den ich in der DDR kennen lernte, war Friedrich Schorlemmer. Der kam im Herbst 1989 zu mir nach Hause, um zu sehen, ob es in der SED vielleicht doch Leute gibt, mit denen man zusammen arbeiten kann. Ich selbst habe vor der Wendezeit in vielen Kirchen geredet, aber dabei entstanden keine Kontakte. Die Oppositionellen und kritische Genossen in der SED hatten sehr unterschiedliche Lebensläufe. Sie lebten in für den anderen jeweils fremden Welten. Sie konnten nicht zusammenkommen. Es gab da eine Barriere.

Hatten Sie auch Vorbehalte gegenüber der Opposition in der DDR?

Brie: Natürlich. Ich wollte, dass die DDR reformiert wird. Aber eine Reform, die von der Opposition ausgeht – das habe ich immer als Gefahr für die Existenz der DDR angesehen.

Sie hielten nur Veränderungen von oben für möglich, aus der SED heraus?

Brie: Ja, und das hatte fatale Konsequenzen. Einer meiner Brüder war nicht in der SED. Wenn er die DDR kritisierte, habe ich mich dagegen gewehrt, weil die Kritik von außen kam. Dabei hat er die gleichen Argumente wie ich verwandt. Ich habe meine eigenen Argumente abgelehnt – nur weil sie aus einer anderen politischen Richtung kamen!

Hatten Sie später Kontakte zu ehemaligen Oppositionellen?

Brie: Viele. Ich bin nach 1990 keiner Diskussion mit ihnen aus dem Weg gegangen. Das war oft sehr schmerzhaft. Aber das viel größere Problem dabei hatte ich mit meiner eigenen Partei. Viele in der PDS sehen ihr eigenes Leben in Frage gestellt. Dagegen wehren sie sich. Einer der Abwehrmechanismen ist, jemanden aus den eigenen Reihen, der mit der „anderen Seite“ spricht, als Verräter zu betrachten.

Gauck: Darin haben die Kommunisten wirklich ausreichend Erfahrung.

Brie: Das macht mich in der Diskussion mit ehemaligen Oppositionellen unfrei. Ich will nicht, dass meine Kritik als Anbiederung erscheint. Aber der Hauptvorwurf, den man in der PDS heute wieder erhebt, ist der des Sozialdemokratismus. Wie in der SED!

Gauck: Ein Vorwurf, der übrigens in der Nähe der Argumentation von Mördern liegt. Weil es ein stalinistisches Wort ist. Die Leute, die es heute benutzen, merken das gar nicht.

Brie: Albert Camus hat über die Toten im Faschismus und die Toten im Stalinismus gesagt: Der Unterschied besteht darin, dass die Hingerichteten bei Stalin ihre Mörder lobpreisten. Das ist ein so folgenschwerer Satz. Mein eigener Vater war Jude und Kommunist ...

Gauck: Ich wusste gar nicht, dass Sie aus einer jüdischen Familie kommen.

Brie: Mein Vater hat oft genug erlebt, dass in seinem persönlichem Umfeld plötzlich Leute verschwanden, zum Beispiel ins Gefängnis kamen. Als ich ihn später einmal fragte, wie er dazu stand, antwortete er: Das war etwas für uns, das jedem von uns passieren konnte. Sie waren noch stolz darauf, dass sie sich dem untergeordnet haben. Wenn man sich das durch den Kopf gehen lässt und dann noch behauptet, eine Partei wie die PDS sei ohne weiteres legitim, dann gehört dazu schon Chuzpe, um mal einen jiddischen Ausdruck zu verwenden.

Gauck: Der Mensch, der das hört, muss jetzt eigentlich schweigen. Das hat so viel von existenzieller Krise in sich. Was für ein menschenverachtender, widerlicher Irrtum, die Mörder der eigenen Genossen noch zu verteidigen!

Brie: Dahinter stehen ein Menschenbild und eine Gesellschaftsauffassung, die zutiefst inhuman sind.

Gauck: Das ist eine extreme Erniedrigung, wenn du nicht nur ein, sondern ein doppeltes Opfer bist. Du verlierst nicht nur dein Leben, sondern auch deine Würde, dein Ich. Schrecklich.

Wundern Sie sich, Herr Gauck, dass Sie mit André Brie plötzlich einer Meinung sind?

Gauck: Wenn einer über das Verlieren und Gewinnen von Lebenszielen so spricht wie André Brie, dann entsteht da bei mir Respekt und Nähe. Wir merken vielleicht gerade, dass wir, bevor wir streiten, uns erst einmal zuhören müssten.

Vorhin sprach André Brie von biografischen Barrieren zwischen Ihnen. Jetzt könnte man annehmen, Sie hätten die gleichen Erfahrungen gemacht.

Gauck: Brie kommt von oben, er war ein Teil des Establishments. Die Kirche ist das zwar auch immer ganz gerne, aber in der DDR war sie das nun gerade nicht. Das macht es ja heute so schwierig, miteinander zu reden. Wir beide werden in unserem jeweiligen „Lager“ nach diesem Gespräch Schwierigkeiten haben. Mich werden sie fragen, ob ich Brie nicht mehr hätte kritisieren können. Ihn werden seine Genossen fragen, ob er mit diesem Großinquisitor Gauck so reden muss, als wäre das ein Mensch. Und er wird dann antworten müssen, ja, das ist ein Mensch.

Brie: Das ist ja offensichtlich.

Gauck: Das werden Sie ihren Leuten aber noch mal genau erklären müssen.

Brie: Das heißt nicht, dass man mit Gauck in allem einig sein muss. Ich habe mich schon oft genug über ihn geärgert.

Gauck: Ich muss ertragen, wenn mich die Leute von der PDS nach der moralischen Berechtigung meines heutigen Tuns fragen. Aber die müssen ertragen, dass ich als jemand, der von ihnen unterdrückt worden ist, sie nach der Legitimation ihrer Herrschaft frage. Ich stelle heute überhaupt viele Fragen, auf die ich früher nicht gekommen bin. Ich war noch viel zu DDR-konform. Trotzdem kommen Brie und ich aus unterschiedlichen politischen Lagern. Brecht hat mal gesagt: Das Wort ist noch nicht erfunden, das uns miteinander vereint. Der Regen fällt von oben nach unten, und du bist mein Klassenfeind.

Wollen Sie jetzt die überholte Ideologie aufwärmen?

Gauck: Nein, ich will nur klarstellen, dass es Herrschaft und Ohnmacht gibt. Und es gibt politische Herrschaft, die die Ohnmacht organisiert. Und die, die sich daran beteiligt haben, hatten Namen und Funktionen. Sie gehören angeschaut, kritisiert und delegitimiert.

Brie: Ich sehe das natürlich anders, schon weil ich mich selbst befragen muss. Und weil ich überzeugt bin, dass eine sozialistische Partei in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft Sinn macht. Aber eine solche Partei muss nach den Ursachen für ihr Scheitern suchen. Dieses Scheitern ist doch in einer Weise beispiellos, dass allein das nachdenklich machen müsste: Wie tief gehen die Wurzeln dafür? Welches Menschenbild liegt dem zugrunde? Welches Verständnis von Freiheit? Wenn ich so herangehe, dann müsste ich als Linker eigentlich zum schärfsten Kritiker der DDR werden.

Gauck: Ja, genauso ist es. Wissen Sie, was mich an der Inquisition am meisten ärgert? Dass es Christen waren, die das gemacht haben. Das ist zwar ein paar hundert Jahre her, aber die Auseinandersetzung damit überlasse ich nicht anderen.

Herr Brie, Sie haben vorhin gesagt, dass die SED-Reformer mit ihren Konzepten für einen reformierten Sozialismus um Jahre zu spät kamen. Sind Sie heute froh darüber, dass das Leben auch Sie damals bestraft hat?

Brie: Froh? Nein. Ich weiß, dass wir heute frei sind. In der Bundesrepublik können wir, im Gegensatz zur DDR, zum ersten Mal richtig über demokratischen Sozialismus nachdenken. Trotzdem würde ich nicht sagen, dass ich froh darüber bin. Ich kann intellektuell etwas als falsch erkennen, von dem ich mich emotional nicht so einfach freimachen kann. Das hat auch mit Machtlosigkeit zu tun. Ich setze mich für einen demokratischen Sozialismus ein, von dem ich weiß, dass daran kaum einer glaubt, geschweige denn, sich aktiv dafür einsetzt.

Sie treten mit Joachim Gauck einem Sieger der Geschichte gegenüber. Fühlen Sie sich da auch machtlos?

Brie: Nein. Zu dem, was ich zu verarbeiten habe, gehört, dass das Gefühl, Sieger der Geschichte zu sein, einen in die Irre leiten kann. Es macht zu selbstsicher. Wenn sich Gauck als Sieger der Geschichte fühlen sollte, dann ist das nicht unbedingt etwas, worum ich ihn beneide.

Gauck: Ich bin doch kein zufriedener Sofasitzer, nur weil ich soziale Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie entschieden bejahe. Wenn ich Mitglied einer Partei wäre, dann würde ich garantiert nicht in ihr Programm schreiben, Punkt 1: Hurra, wir sind am Ziel.

Brie: Letztens haben Sie behauptet, alle Forderungen der DDR-Oppositionsbewegung seien in der Bundesrepublik erfüllt. Das halte ich für Schönfärberei.

Gauck: Unsere zentralen Forderungen damals waren: freie und geheime Wahlen, die Herrschaft des Rechts und Gewaltenteilung. Das sind uralte, zentrale Forderungen aller Befreiungs- und Demokratiebewegungen. Die haben sich für uns heute erfüllt.

Brie: Nichts gegen diese Forderungen, aber die DDR-Opposition hat sie konkreter formuliert, nicht so allgemein wie Sie jetzt. Die Demokratie sollte entwickelt werden, aber das sah nicht nur freie Wahlen vor, sondern auch eine viel direktere Mitwirkung der Bürger.

Gauck: Mit der parlamentarischen Demokratie sind wir nicht am Ziel. Unsere Gesellschaft muss sich immerzu reformieren. Ich kann mir auch viel mehr Bürgerbeteiligung vorstellen.

Brie: Die Bundesrepublik ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt gegenüber der DDR, aber eben nur ein ungenügender Fortschritt. Zum Teil stehen noch wirklich prinzipielle Dinge aus. Natürlich müssen wir die parlamentarische Demokratie verteidigen, aber vielleicht reicht sie allein nicht mehr aus. Viele Menschen sind ihr entfremdet.

Gauck: Bei den prinzipiellen Dingen würde ich ein Fragezeichen machen. Ansonsten sind wir nicht so weit auseinander. Für mich ist es eine der ganz erschreckenden Erfahrungen mit der freien Welt, dass sich die Menschen oft so verhalten, als würde ihnen ein Diktator Emanzipation und Mitbestimmung verweigern. Gerade in Wohlstandsgesellschaften legen sich die Menschen selber Ketten an. Sie wollen Freiheit, aber sind nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen.

Brie: Aber werden die Menschen nicht durch die gesellschaftlichen Zustände zu Zuschauern? Zersplittert die Gesellschaft nicht durch die Globalisierung? Ralf Dahrendorf schreibt in seinem Essay „Der moderne soziale Konflikt“, dass der heutige Gesellschaftsvertrag zur Disposition steht, ähnlich wie im 19. Jahrhundert.

Gauck: Wir wissen nicht, ob die Globalisierung wirklich so teuflich ist, wie sie jetzt immer dargestellt wird. Wir sind doch heute der Ansicht, dass der Maschinensturm nicht das richtige politische Kampfinstrument war. Vielleicht wird ein Globalisierungssturm in fünfzig Jahren auch so lächerlich sein.

Brie: Aber vielleicht führt die Globalisierung doch dazu, dass die Wirtschaft die Demokratie in den Hintergrund drängt. Ich unterstelle nicht, dass da irgendjemand am großen Hebel sitzt. Es sind vor allem auch objektive Prozesse. Trotzdem verlangen sie Widerstand.

Warum wehren Sie sich gegen Bries Forderung, dass unsere Gesellschaft prinzipieller Änderungen bedarf?

Gauck: Weil ich im Herbst 1989 zu einer wesentlichen Erkenntnis gekommen bin: In der Politik ist das weniger Schlechte so etwas wie ein Höchstwert. Die Weisheit der Massen bestand 1989 darin, den Leuten, die damals von Visionen redeten, zu sagen, lasst uns doch erst mal in den Westen gehen, dort gelten Bürger- und Menschenrechte, es gibt eine funktionierende Demokratie und Ökonomie. Ich habe nie wieder so tiefen Respekt vor dem Volk empfunden wie 1989.

Brie: Ich denke, dass Visionen, gerade für eine linke Partei, unerlässlich sind. Max Webers berühmter Spruch „Politik ist das Bohren dicker Bretter, mit Augenmaß und Leidenschaft“ stammt ja aus einem Vortrag von ihm über die Sozialdemokratie. Realpolitik und Visionen – das ist gerade für die Linken unerlässlich.

Gauck: Natürlich gehören Visionen auch irgendwie zur Politik. Aber wenn sich überall die Visionäre drängeln, frage ich mich manchmal, ob sie vor lauter mystischer Verzückung noch die Kraft haben, den nächsten politischen Schritt zu gestalten.

Brie: Ohne Visionen werden Menschen wüst und leer, steht bei Salomon.

Gauck: Ja, natürlich wäre das Leben ohne Sehnsucht und Visionen arm. Aber in der Politik, auf einem Feld, wo Vernunft gefragt ist, möchte ich nicht ständig den Glauben vorfinden. Wenn insbesondere Intellektuelle wegen des Ausbleibens ihrer romantischen Ideale die Mitarbeit in der alltäglichen Politik miesmachen – das kann ich nicht ab.

Brie: Das heißt doch aber noch lange nicht, dass man eine Gesellschaft nicht auch verändern sollte.

Gauck: Natürlich nicht. Ich habe auch Lust, für Veränderungen einzutreten. Aber nicht, weil ich Visionen habe. In der Bibel ist zu lesen, dass ein Lahmer nicht immer lahm bleiben muss. Und dass ein gefangenes Volk trotz Pharaonenmacht und Meeren, die es einschließen, sich auf den langen Weg der Freiheit begibt.

Auffällig ist, dass Joachim Gauck, der ehemalige Pfarrer, der den Glauben systematisch gelernt hat, eigentlich gar nicht mehr glaubt. Aber viele in der PDS hängen immer noch einem Glauben an.

Brie: Die kommunistische Bewegung war früher eine Bewegung der Unterprivilegierten. Sehr lange waren ihre Anhänger vom Bildungsbürgertum abgeschnitten. Durch den Stalinismus wurde das noch verschärft. Marx kam aus einer libertären Bewegung. Von Engels stammt der Satz: Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus. Das ist alles unter dogmatischen Lehrsätzen verschütt gegangen. Am Ende war das nur noch Religion.

Gauck: Einheit, Reinheit, Geschlossenheit – das war das Credo der Kommunisten.

Brie: Unsere Lehre ist allmächtig, weil sie wahr ist, hieß es. Das ist tief in den Köpfen, vor allem aber in den Herzen vieler Mitglieder der PDS verankert, das schleppen wir mit uns rum. Dabei war der Sozialismus mal eine große Kulturbewegung, die auf die Dialektik setzte.

Gauck: Am Ende war es nur noch eine Bewegung, die ihren emanzipatorischen Geist aufgegeben hat. Sie wurde totalitär.

Brie: Wenn sich die PDS als Partei ändern will, dann muss sie sich dem Widerspruch aussetzen, dass das freie Individuum nicht einfach mit der solidarischen Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen ist. Markt und Eigentum sind auch Fragen der Freiheit. Wenn die PDS an dem Alten festhält, dann glaubt sie, schon wieder die Wahrheit gepachtet zu haben. Das wäre ihr Untergang.

Gauck: Wenn sich die PDS so entwickelt, wie Brie das verlangt, dann könnte sie ein ganz interessantes Projekt werden.

Wir sind überrascht, wie wenig in dem Gespräch zwischen Ihnen das Thema Stasi-IM eine Rolle spielt. Ist das schwierig oder unangenehm?

Gauck: Nein, ich habe das Thema nur zurückgestellt, um eine partnerschaftliche Begegnung nicht zu gefährden. Ich bin von André Brie offenkundig nicht verraten worden.

So einfach ist das?

Gauck: Es geht um etwas anderes. Natürlich hat Brie einen Fehler begangen und Schuld auf sich geladen. Aber je nachdem, über welche Schuld wir reden – die moralische, die strafrechtliche, die metaphysische und die Verantwortung für Schuld –, werde ich Herrn Brie begegnen. Ich bin kein Moralrichter, ich bin nicht Gott, ich bin kein Strafrichter, auch wenn einige von der PDS das so sehen. Mit Brie rede ich über die politische Verantwortung für das, was er als Informeller Mitarbeiter der Stasi getan hat.

Macht Gauck Ihnen ein schlechtes Gewissen, Herr Brie?

Brie: Nein, das habe ich bereits, das kann er mir nicht machen.

Gauck: Das ist einer der Gründe, warum ich mit ihm hier zusammensitze.

Brie: Ich denke ständig über meine IM-Geschichte nach. Dazu brauche ich mich nicht hierher zu setzen. Mit meinem Outing 1992 war das nicht abgeschlossen. Es hat damals erst ernsthaft begonnen. In mir rumort und gärt es ständig.

Gauck: Wenn einer so umdenkt wie André Brie, seine Niederlage eingesteht, seine Scham nicht verbirgt, aber von seinen eigenen Freunden in der PDS nicht verstanden wird – dann entsteht bei mir ein ganz ursprünglicher Impuls, und das ist ein brüderlicher. Jeder Mensch scheitert, ich auch. Aber wenn er seinen Irrtum öffentlich einräumt, dann befreit er sich selber. Das ist für jeden sehr schwer. Und in dem Moment, wo die Existenz dieses Menschen durchschimmert, wo er als Angefochtener dasteht, da entsteht plötzlich eine große menschliche Nähe. Da hört die ganze Feindschaft auf.

Wie viele Jahre gehen noch ins Land, bis Joachim Gauck auf einem PDS-Parteitag über totalitäre Herrschaft sprechen kann?

Brie: Die Frage ist, ob Gauck das macht.

Gauck: Ja, selbstverständlich, ich würde mit besonderer Freude zur PDS gehen.

Brie: Die PDS wäre gut beraten, sich dem auszusetzen – und zwar schnell. Ich weiß nicht genau, was dann passiert: Ob sich die Partei hinter gespielter Gleichgültigkeit verschanzt oder sich darauf einlässt. Aber Gauck zuzuhören, über ihn nachzudenken, ihm zu widersprechen – das könnte uns nur gut tun.

Gauck: Am Anfang meiner Rede müsste ich aber einigen Leuten die Leviten lesen.

Jens König, 35, leitet das Inlandsressort der taz; Patrik Schwarz, 29, arbeitet als Redakteur im Berliner Parlamentsbüro der taz; Jan Feddersen, 42, mitverantwortet das taz.mag