Modernes Antiquariat
: Deutsch-deutsche Männertreue

■ Vor der Wende war die Transitautobahn der letzte Ort fürs Geschichten-Erzählen: 1985 erschien Thorsten Beckers „Die Bürgschaft“

Vor dem Boom war auch schon Boom: Wir stellen in unregelmäßiger Reihenfolge Berlin-Romane vor, die vor 1989 erschienen sind.

Seinerzeit fuhr man mit dem Auto über den so genannten Transit nach Westberlin. Passieren konnte da eigentlich nie was, trotzdem hatte diese Reise immer etwas Besonderes: das Warten an den Grenzübergängen; das Staugefühl, das Touris und coole Westberliner, brave Zehlendorfer Akademiker und Szenemenschen zusammenführte; die obligate, aber irgendwie unangenehme Kontrolle durch die DDR-Grenzer; die stumme Begegnung mit den DDR-Bürgern in ihren Trabis; die Intershops, diese kleinen Transitinseln, die auf der Transitstrecke Zeit und Raum zuverlässig einteilten.

In seiner 1985 erschienenen Erzählung „Die Bürgschaft“ verstärkte Thorsten Becker diese immer gleichen Erfahrungen gleich mit seinen ersten Satz: „Es gibt vielleicht noch einen Ort in Deutschland, den Bundesrepublikaner fürs Erzählen haben. Dieser Ort ist die Transitautobahn. Die DDR sollte meiner persönlichen Meinung nach nächstens mit dieser Begründung die Transitpauschale erhöhen.“

Stand da ganz ohne Vorwarnung, einfach so, total richtig und wahr, fast für die Ewigkeit: Liest man die Sätze heute, erinnert man sich sofort der gemütlichen Fahrten, möchte man sofort wieder loslegen und Geschichten erzählen von Trampern und anderen komischen Menschen, von Freundschaften und Liebeleien, die auf dem Transit begannen.

Thorsten Becker hatte damals natürlich anderes im Sinn. Seine drei Sätze sollten gleich zu Beginn Form und Schauplatz konstituieren, sie zeigten an, wie hochartifiziell und dreimal um die Ecke kodiert seine mitunter sehr altväterlich und gespreizt geschriebene Geschichte war.

Denn Mitte der Achtziger konnte in der Literatur vom großen Geschichten-Erzählen keine Rede sein. Die können das alle nicht mehr, sagte die Kritik, wir wollen das nicht, die Autoren. Mit Marx, Schlegel und der Erklärung, wie es zu dieser Meta-Erzählung kam („Als Schüler des Schiller-Gymnasium mußte ich die Ballade von der Männertreue auswendig lernen“), nimmt dann Becker ganz langsam Fahrt auf Richtung Ostberlin: Hier ticken die Uhren noch anders, sozialistisch und vormodern, hier regieren nicht Unübersichtlichkeit, Pop und Postmoderne, sondern Transparenz und Bedächtigkeit.

Und hier begegnet Beckers aus dem Westen stammender Erzähler im Wiener Café an der Schönhauser Allee dem Ostberliner Bühnenbildner Schlitzer. Er entwendet ihm eine Zeichnung und verwendet sie ohne dessen Wissen als Illustration für ein eigenes Buch, was wiederum Schlitzer eine schon genehmigte Westreise kosten kann. Wie in Schillers Ballade „Die Bürgschaft“ beschließen dann die Herren zusammen mit dem Stasi-Offizier Lärisch, Schlitzer nach Wien reisen zu lassen und den Erzähler als Pfand in der DDR zurückzubehalten.

„Es ist aus diesem kleinen Buch sehr viel über das Leben in der DDR zu erfahren“, schrieb damals der begeisterte Marcel Reich-Ranicki. Doch Becker hat in Sachen DDR mit viel Wonne vor allem die Klischeemaschine angeworfen: Die Ostberliner stehen Schlange, saufen wie die Weltmeister, haben mit unfreundlichen Kellnern zu kämpfen usw. usf. Das hätte man auch gewusst, ohne jemals „drüben“ gewesen zu sein. Lustig und unbeschwert wirkten Beckers Anekdoten, Eindrücke und Geschichtchen trotzdem. Schade, dass es vorbei ist, schallt es auch heute noch hie und da aus diesem Büchlein, schneller als erwartet verschwanden Langsamkeit und alte Zeitrechnungen, gab es wieder richtig viel Platz, um sich Geschichten erzählen zu können. Mag aber der Fall der Mauer für den bekannten Boom an Berlin-Romanen gesorgt haben, so lassen allerdings die wirklich großen und guten Erzählungen immer noch auf sich warten. Und Thorsten Becker? Der hat danach nie wieder so was Schönes geschrieben.

Gerrit Bartels

Thorsten Becker: „Die Bürgschaft“. Amman Verlag, Zürich 1985, 160 Seiten, 20 DM