Moralische Warmduscher

■  Ein Jugendlicher auf Lebensbesuch: Siegfried Lenz verabschiedet sich mit „Arnes Nachlaß“ langsam aus seiner Zeit

Ja, Arne musste sterben. Denn er passte nicht in diese Welt. Arne war zu schlau, zu feinfühlig, zu weich, zu moralisch für unsere Zeit. Schon gleich zu Beginn liest man über ihn, er wirke, als habe er sich „in unsere Welt verirrt“. So heißt es in dem Moment, da er das Haus seiner neuen Familie betritt, die bereit ist, ihn aufzunehmen, nachdem Arnes Vater seine ganze Familie aus Verzweiflung über drückende Schulden getötet hat. Auch Arne hätte da schon sterben sollen. Aber Arne kam noch mal zurück.

Doch es ist eher so eine Art Lebensbesuch, den er hier noch einmal unternimmt. Er war eigentlich schon fort. Er scheint nur noch ein letztes Mal probieren zu wollen, ob es nicht doch klappen kann mit seiner Art zu leben in dieser Welt. Doch es klappt nicht, und nun muss Hans, der Freund, den er in seiner neuen Familie fand, Arnes Nachlass zusammenräumen. Und er erinnert sich anhand der verschiedenen einsortierten Nachlassteile erzählend an das Leben eines unerbittlichen Moralisten in unserer Zeit.

Siegfried Lenz hat mit seinem neuen Roman, „Arnes Nachlaß“, ein teilweise wütendes, teilweise resignierendes Testament gegen seine Zeit geschrieben, oder besser: gegen das, was er für seine Zeit hält. Denn die Welt, die er auf den gut zweihundert Seiten beschreibt, ist eine Welt, die längst vergangen ist. Es ist die enge, muffige, strenge Familienatmosphäre, wie sie vielleicht in den Fünfzigerjahren geherrscht haben kann, vielleicht auch früher.

Die Menschen, auch die allerjüngsten, sprechen in einem merkwürdig antiquierten Tonfall, sie tragen „Turnhemden“ und finden es bemerkenswert, wenn es zum Abendbrot „südafrikanische Tafelbirnen“ gibt. Die Mutter schlägt ihre Tochter, weil sie mit einem als verrucht geltenden Jungen abends ausgewesen ist; und der halbwüchsigen Hans, dem die Aufsicht über eine „Turnklasse“ in der Schule übertragen wurde, schlägt einem Schüler ins Gesicht, weil der seinem Freund Arne einen Streich gespielt hat.

Jetztzeit bricht immer nur kurz und meist als bloßes Wort ins Geschehen ein. Der Leser erschrickt richtig, wenn an einer Stelle die Backstreet Boys genannt werden oder vom Untergang der „Estonia“ die Rede ist. Ach, das soll also das Heute sein. Und wenn der aufrührerische Bruder Lars laut David Lowerys „I hate my generation“ hört, wird der sich beklagende Hans darauf aufmerksam gemacht, dass dies „eine Kampfansage an die Warmduscher“ sei. Unjugendlicher kann Jugendjargon kaum sein.

Es ist ein Abschiedsbuch, keine Frage. Die Geschichte, die Siegfried Lenz hier erzählt, ist eine Geschichte der Moral. Arne ist ein junger Hohepriester des Lebens ohne Schuld. Er will nicht stören, will anständig sein um jeden Preis und gleichzeitig zu der lässigen Gang um den coolen Lars dazugehören. Das Dilemma ist nicht aufzulösen. Sein Gewissen ist so rein, sein Moralverständnis so absolut, dass er sich, nach der einen großen, unmoralischen Tat, mit der er hoffte, ein für alle Mal dazuzugehören, zum Tod durch Ertrinken entschließt. Ein Heiliger, nicht von dieser Welt.

Der Bestsellerautor Siegfried Lenz, der große Mahner der letzten Jahrzehnte gegen Atombewaffnung, ökologische Katastrophe und die Wiedergänger des Faschismus, der mit seiner „Deutschstunde“ Ende der Sechzigerjahre einen der erfolgreichsten Romane zur Aufarbeitung des Dritten Reichs geschrieben hat, hat sich offenbar entschlossen, von dieser Welt nichts mehr wissen zu wollen. Sie kommt in „Arnes Nachlaß“ nicht mehr vor. Und die Schimäre, die als Welt erscheint, ist so feindlich, dass ihr nur durch absolute Moral oder durch Selbstmord begegnet werden kann.

Vielleicht stimmt es ja, dass die Generation der großen Moralisten in der deutschen Literatur, die heute gut Siebzigjährigen, seit dem Fall der Mauer zu einer Art musealer, doch irgendwie noch liebens- und schützenswerter Spezies geworden sind. Dass sie unverrückbar mit jenem Nachkriegsdeutschland im Osten wie im Westen verbunden sind, das es seit 1990 nicht mehr gibt. Siegfried Lenz jedenfalls scheint für seinen Teil dieser These mit seinem jüngsten Buch Recht zu geben.

Volker Weidermann

Siegfried Lenz: „Arnes Nachlaß“. Hoffmann und Campe, Hbg. 1999, 206 S., 29,90 DM