■  Die Türkei ist seit Samstag Beitrittskandidatin für die Europäische Union. Obwohl noch niemand weiß, ob und wann sie tatsächlich aufgenommen wird, fürchten konservative Politiker in Deutschland bereits um die kulturelle Identität der Gemeinschaft. In der Türkei herrschen Aufbruchstimmung für die fälligen Reformen des Staates und Hoffnung auf mehr Demokratie. Reaktionen aus beiden Ländern
: Vorfreude ist die schönste Freude

Der Türkei-Beschluss des EU-Gipfels war ein schwarzer Tag für die Konservativen in Deutschland. Bundeskanzler Gerhard Schröder und vor allem Außenminister Joschka Fischer haben mit ihrem Einsatz im Vorfeld der Helsinki-Konferenz den historischen Schritt nicht nur ermöglicht, sondern der Opposition ein lieb gewordenes Feindbild geraubt. Zwanzig Jahre lang diente den Unionsparteien die „türkische Gefahr“ als populistischer Identitätskitt für ihre Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik: In den Achtzigerjahren zum Beispiel in Form rassistischer Warnungen vor fruchtbaren türkischen Frauen, die die demographische Balance der Republik durcheinanderzuwirbeln drohen. In den Neunzigern dann in Gestalt eines unberechenbaren politischen Islam, der die christliche Wertegemeinschaft auf nationaler und europäischer Ebene bedrohe.

Kein Wunder also, dass der CSU-Landesgruppenchef Michael Glos von einer „krassen Fehlentscheidung“ spricht. Für Glos widerspricht der Beschluss von Helsinki der Meinung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Vor einer Aufnahme der Türkei, fordert Glos, müsse eine Grundsatzdebatte über die geografische Grenze Europas geführt werden: „Dabei gilt es, neben politischen und wirtschaftlichen Kriterien, vor allem die kulturelle und historische Dimension zu betrachten.“

Friedbert Pflüger (CDU), Vorsitzender des Europaausschusses im Bundestag, äußerte sich ebenfalls skeptisch. Einerseits könnten in der Türkei unrealistische Illusionen entstehen. Andererseits könnten in der europäischen Bevölkerung Verunsicherungen aufreten, meint er, ohne dies näher auszuführen.

Die Vertreter der türkischen Gemeinschaft in Deutschland dagegen begrüßen den Beschluss über den Beitrittskandidaten-Status der Türkei mit Genugtuung. „Es war eine notwendige Korrektur der Politik der alten Bundesregierung“, meint Mehmet Daimagüler, Vorsitzender der FDP-nahen liberalen türkisch-deutschen Vereinigung. Gleichzeitig widerspricht Daimagüler der Äußerung des parlamentarischen Geschäftsführers der FDP-Bundestagsfraktion, Jürgen Koppelin, der die Außenpolitik der Bundesregierung als „verlogen“ bezeichnete. „Verlogen war die Türkeipolitik der alten Regierung. Wenn führende Unionspolitiker meinen, die Türkei gehöre wegen des Islams nicht zu Europa, hat das enorme Auswirkungen auf die Menschen hier, die sich zurückgestoßen fühlen“, so Daimagüler weiter.

Safter Cinar, stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), glaubt vor allem an die psychologische Wirkung des Beschlusses für die 2,5 Millionen Deutschtürken. „Das Gefühl, man will uns eigentlich nicht in Europa, könnte nun weniger werden.“ Und sein Vorstandskollege, Hakki Keskin, meint: „Als Deutschlandtürken erhoffen wir uns nun mehr Akzeptanz im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung.“ Die TGD setzt darauf, dass die Entscheidung nicht nur das Zugehörigkeitsgefühl der 3,5 Millionen Einwanderer aus der Türkei, die in den Staaten der EU leben, fördert, sondern auch den Prozess der Identifikation mit dem Wertesystem Westeuropas beschleunigt.

Auch Hasan Özdogan, Vorsitzender des von Milli Görüs dominierten Islamrats, erhofft sich viel für die Zukunft. Zum Beispiel, dass sich nun die rechtliche Position der 12,5 Millionen Muslime in der EU, aber auch die der Muslime in der Türkei verbessert. „Gelingt es, den Islam in eine künftig demokratische türkische Gesellschaft zu integrieren, wäre das ein wichtiges Signal für eine Demokratisierung der gesamten islamischen Welt.“ Die Türkei, so Özdogan könnte in einer künftigen Annäherung zwischen Europa und der islamischen Welt eine wichtige Brückenkopffunktion einnehmen.

Voller Euphorie ist die Geschäftsführerin der Deutsch-Türkischen-Stiftung (DTS), Mehpare Bozyigit-Kirchmann. „In der Türkei wird es nun zu einem intellektuellen Aufbruch kommen. Künstler, Sozialwissenschaftler, kurz die ganze Elite, die seit dem Militärputsch 1980 geschwiegen hat, wird sich nun zu Wort melden.“ Das Türkeibild in Deutschland werde sich grundlegend ändern, und es könnten endlich „heiße Themen“ angepackt werden. Auch Bozyigit-Kirchmann denkt dabei an den Islam. „Nun gilt es zu zeigen: Islam und Demokratie, das geht zusammen.“ Die DTS plant für kommendes Jahr ein Symposium zum Thema, zu dem Reformisten aus der gesamten islamischen Welt eingeladen werden sollen. Bozyigit-Kirchmann ist davon überzeugt, dass die Annäherung der Türkei schneller vonstatten gehen wird als erwartet: „Denn die Türkei hat im Gegensatz zu den anderen EU-Kandidaten die einmalige historische Chance, auf das Know-how der Deutschtürken zurückzugreifen.“

„Erfeulich“, bezeichnet der innepolitische Sprecher der Grünen, Cem Özdemir, den Beschluss von Helsinki. Er markiert für ihn das Ende der bundesdeutschen Abschottung gegenüber Türken und der Türkei. „Es ist kein Zufall, dass die gleichen Kreise, die gegen ein liberales Staatsbürgerschaftsrecht Sturm liefen, nun auch die Türkei-Entscheidung kritisieren.“ Eberhard Seidel, Berlin

Wer nach der Entscheidung von Helsinki in der Türkei Jubeltänze auf der Straße erwartet hat, wurde enttäuscht. Nur mit Freude lässt sich das Post-Helsinki-Syndrom nicht beschreiben. Die Aufbruchsstimmung wird von den Eliten des Landes mit der Zeit kurz nach der Republikgründung verglichen. Denn in Helsinki wurde, so fühlen viele, den Türken nicht bloß technisch und auf dem Papier ein „Kandidatenstatus“ verliehen. Dieser Beschluss bedeutet die volle, offizielle Anerkennung der europäischen Identität „des Türken“ schlechthin, er ist ein Lob, eine Bestätigung, ein Gütesiegel, dessen man sich nun unbedingt und auch schnell als würdig erweisen will. Helsinki erfüllt die Mehrheit in der Türkei mit Genugtuung und Stolz und gibt die nötige Motivation, um letzte Hürden vor den grundlegenden Reformen zu beseitigen, die das Land seit Jahren vor sich her schiebt. Die Zauberformel lautet: „Weg damit, sonst können wir nie nach Europa.“

Zum Beispiel der gefürchtete Strang: Eine Hinrichtung des PKK-Chefs Abdullah Öcalan, die ohnehin kaum wahrscheinlich war, ist nun völlig vom Tisch – die Todesstrafe wird als Erstes abgeschafft, wie auch Ministerpräsident Bülent Ecevit noch in Helsinki ankündigte. Auch der nationalistische Koalitionspartner Ecevits, die MHP, gibt klein bei, wenn es um Avrupa geht.

Militär? Das Massenblatt Sabah titelt gestern unter dem Familienfoto aus Helsinki: „Die Ära der Militärputsche ist endgültig vorbei. Oder können Sie sich in dem obigen Bild einen uniformierten General vorstellen?“ Die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats wird auf eine beratende reduziert – quasi automatisch, nach juristischer Anpassung an die EU.

Auch andere große Worte werden gelassen ausgesprochen: „Wir müssen uns in allen Bereichen europäischen Standards anpassen.“ Also: „Menschenrechte respektieren und Folter endlich zum Fremdwort werden lassen“. Zweitens kommen, getreu den Kopenhagener Kriterien, die Minderheitenrechte: „Kurdisch muss in den Medien und in der Schule zugelassen werden.“ Weiter: „Intellektuelle und Journalisten dürfen nie mehr wegen ihrer Gedanken ins Gefängnis.“ Und neben Kurden, Folter und Justizreform gibt es auch das fürchterliche Verkehrschaos auf den Straßen, schmutzige öffentliche Toiletten oder einfach die Neigung „des Türken“, in seinem Alltag offizielle Regeln zu missachten – alles Missstände, die „wir sofort beseitigen müssen“.

Bei der Anpassung baut die Türkei auf die Erfahrung Brüssels in Sachen Integration neuer Mitglieder: Ankara wird bald ein Ministerium für EU-Fragen einrichten. Aus 31 Themengebieten sollen 110.000 Seiten EU-Verordnungen übersetzt werden, damit die türkischen Gesetze angepasst werden können. Der unterbrochene politische Dialog ist nicht nur wieder aufgenommen, sondern wird intensiviert; die Türkei wird an den regelmäßigen Ministertreffen der EU als Beitrittskandidatin teilnehmen. Türkische Unis oder Bürgerinitiativen freuen sich auf EU-Partnerschaften und Fonds.

Bargeld lacht: Nach EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen stehen der Türkei in den kommenden drei Jahren 540 Millionen Euro (ca 1,1 Milliarden Mark) an Hilfe zu, daneben bekommt sie 325 Millionen Euro für die Zollunion und nochmals 325 Millionen aus dem „Meda.Programm“ der EU für Mittelmeerländer. Aber nicht nur das Finanzministerium und die ohnehin westlich orientierten Eliten des Landes freuen sich: Die Kurden, einschließlich der PKK, versprechen sich von der Kandidatur Positives und wollen sich auch selbst „bessern“, wie der einflussreiche Serhat Bucak sagt: „Sind wir nicht auch mit der Türkei, deren zwangsläufige Staatsbürger wir sind, Kandidaten für die EU geworden? Also müssen auch wir entrümpeln und aufräumen.Wir müssen uns gegenseitig achten.“

Arbeiter und Beamte freuen sich: Sie bekommen größere Organisationsfreiheiten und profitieren von der erwarteten Senkung der Inflationsrate – die Regierung will sie im nächsten Jahr von 65 auf 25 Prozent drücken. Und es freuen sich die Fundamentalisten, weil „eine Türkei, die politische Parteien verbietet, niemals in die EU kommen würde“, wie Recai Kutan, Vorsitzender der Tugendpartei FP, sofort registrierte.

Diese große Reformwilligkeit geht einher mit großem Vertrauen in das Wort der EU, die Türkei tatsächlich zum Vollmitglied zu machen, wenn sie die Kriterien erfüllt hat. Aber nicht alle sind so optimistisch. Der Wirtschaftsprofessor Erol Manisali gehört zu den Wortführern der Skeptiker: „Die Türkei läuft in die Falle. Wir haben Zypern aus der Hand gegeben und akzeptiert, dass die Ägäis im nächsten Jahrhundert zum griechischen Binnensee wird. Dafür haben wir nur ein leeres Versprechen bekommen. Die EU nimmt uns niemals auf, denn die Türkei ist mit ihrer Wirtschaft, Bevölkerung, Fläche viel zu groß, um von ihr verdaut zu werden.“ Dass die EU die Türkei lange hinhalten will, wird jedoch auch von den Optimisten mit einkalkuliert. „Deshalb“, fasst der langjährige Diplomat Cem Duna die offizielle Politik zusammen, „müssen wir die Reformen so schnell wie möglich verwirklichen – und anklopfen.“ Dilek Zaptcioglu, Istanbul