Sex, Skandale und Millionen

Im Moskauer Wahlbezirk 201 kämpfen eine Feministin, eine Beischlafspezialistin und ein exkommunistischer Millionär um ein Duma-Mandat. Als wahrer Kandidat fühlt sich ein Obdachloser. Der darf nicht antreten ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Ich hätte nicht gedacht, dass diese Wahlen so kriminell sind. Deshalbbin ich froh, dass ich mich der ‚Union rechter Kräfte‘ angeschlossen habe.“

Der Schlamm in den innenstadtnahen Geschäften am unteren Ende des Moskauer Leninski-Prospekts, an dem sich – im Zuckerbäckerstil – solide gemauerte Wohnburgen für die Parteinomenklatura, für Professoren und Koryphäen der Wissenschaft erheben, liegt knöchelhoch. Es wirkt, als habe man den Schlamm extra in Lastwagen hierher gekarrt, vom anderen Ende des Leninski, vom Stadtrand, wo in den 70er-Jahren allerhand Forschungsinstitute auf unbefestigtem Ödland aus Beton eilig hochgezogen wurden.

Die gesamte Länge des Leninski-Prospekts zieren Wahlplakate, doch nie hängen sie lange. Flugblätter verschwinden schon nach Stunden von den Bäumen. Solidere Reklameträger werden anders sabotiert. Zum Beispiel die gläsernen Schaukästen an den Bushaltestellen, in denen ein farbiges Porträt von Michail Sadornow (36) prangt. Der Ex-Finanzminister kandidiert in diesem Wahlbezirk für die liberale Oppositionspartei Jabloko. Täglich im Morgengrauen kleben Spezialbrigaden auf Sadornows Halbglatze kleine Plakate mit dem Abbild des KPR-Kandidaten Alexander Kuwajew (52). Drei Stunden später schlagen Sadornows Getreue zurück: Einer schabt mit einem Messer den Kommunisten ab, der andere poliert mit einem Tuch die Leimspuren von Sadornows Glatze.

Am nächsten Sonntag wählt Russland ein neues Parlament (Duma). Um die 450 Sitze bewerben sich 27 Parteien. Dabei haben sich die Kandidaten während des Wahlkampfes in den vergangenen Wochen mit mehr Schlamm beworfen, als in diesen Tagen auf Moskaus Straßen liegt.

Kein Fernsehkanal existiert im Lande mehr, hinter dem nicht eine der großen Parteikoalitionen stünde, entweder die Partei „Vaterland – Ganz Russland“, die vom Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow und Ex-Premier Primakow angeführt wird, oder die vom Jelzin-Clan und Premier Putin neu geschaffene Bewegung „Einheit“. Die Moderatoren erblicken ihre Hauptaufgabe darin, kompromittierende Geschichten über die Kandidaten aus dem jeweils gegnerischen Lager hinauszuposaunen. 80 Prozent der Bevölkerung glauben, dass nicht einmal die Stimmauszählung fair sein wird. Aber 70 Prozent der Wahlberechtigten finden es trotzdem wichtig, den Urnengang anzutreten.

Für Wladimir Kaurow (29) sind diese Wahlen besonders wichtig. In ungefütterten Halbschuhen stapft er durch den Schnee auf dem Leninski. Er trägt abgewetzte Jeans, aber eine adrette dunkelblaue Schülerjacke. Niemand, würde vermuten, dass er ein „Bomsch“ ist. So lautete die russische Abkürzung für „ohne Wohnsitz“. Kaurows Pass wurde nach dem Militärdienst einbehalten. Er ist nirgendwo gemeldet und gilt als Landstreicher. Dem Bild des filzbärtigen Gossenbewohners entsprechen in Moskau die wenigsten seiner Schicksalsgenossen.

Wie er sind sie meist Opfer der mittelalterlichen Meldevorschriften, die in der Hauptstadt besonders streng ausfallen. Kaurow hat mit drei Kumpels ein Zimmer in einer Nebenstraße des Leninski gemietet. Sie ernähren sich von umgerechnet zwei Dollar am Tag. Selten steht etwas anderes auf dem Tisch als Hirsebrei mit Zwiebeln und Sonnenblumenöl. „Aber wenn man nur in Lumpen geht“, sagte Kaurow, „drückt das auf die Beliebtheitskurve“. Im Wahlbezirk Nr. 201 mit 480.000 gemeldeten Einwohnern fühlt er sich nämlich als Kandidat.

Im russischen Wahlgesetz ist nur die Rede davon, dass die Kandidaten Bürger des Landes sein müssen. Nachdem die Bezirkswahlkommission seine Kandidatur als Unabhängiger abgelehnt hatte, klagte er. Inzwischen liegt sein Fall schon beim Obersten Gerichtshof der Russischen Föderation. Falls er Recht bekäme, könnte Kaurow das Ergebnis in seinem Bezirk nachträglich annullieren lassen. „Solche wie mich gibt es in Moskau 35.000“, schätzt er. Wahrscheinlicher ist, dass es eine Million sind.

Der selbst ernannte Repräsentant der Bomsch-Klasse staunt noch immer, wie freundlich man ihn in der Bezirkswahlkommission behandelte. „Sind Sie auch nicht beleidigt, wenn ich Sie verklage?“, fragte er die Vorsitzende, und die antwortete: „Das kommt hier nicht mehr drauf an.“

Der braven Dame ist nämlich der Distrikt mit den buntesten Vögeln unter den Kandidaten zugefallen. Unter den zwölf Registrierten befindet sich Russlands Feministin Nr. 1, Marija (Mascha) Arbatowa (42), von Beruf Dramenautorin und Fernsehmoderatorin. Dazu kommt die Sexskandalnudel und Ex-Journalistin Darja (Dascha) Aslamowa (30). Ihren Ruhm verdankt sie ihren „Memoiren eines Schmuddelmädchens“, in dem sie ihre erotischen Abenteuer mit zahlreichen Prominenten aus Politik und Wirtschaft beschreibt.

Das Maß der Exotik voll macht Wladimir Semago, Kandidat einer linken Splittergruppe namens „Geistiges Erbe“, der noch bis vor kurzem Mitglied der kommunistischen Partei und Besitzer eines Spielkasinos war. Sein Hauptanliegen ist es, Moskau vor fremden Unternehmern zu schützen.

Krass prallen hier im Wahlkreis 201 die Weltanschauungen aufeinander: Einerseits trauern die älteren Führungskräfte der diversen Hochschulen und Forschungseinrichtungen ihren Privilegien und dem Kommunismus nach. Andererseits bildeten viele hiesige Wähler dank ihres wissenschaftlichen, rationalen Denktrainings von Anfang an eine Plattform für die Reformbewegung im Lande.

Im Auditorium der Pädagogischen Hochschule, gehüllt in ein dekoratives Pelzmäntelchen, gibt sich Dascha Aslamowa den Anschein, auf die an diesem Institut vorwiegend weiblichen studentischen Wähler zu warten. Viel Mühe hat sie sich nicht gemacht, um das Ereignis zu affichieren: ein Anschlag am schwarzen Brett, der natürlich sogleich wieder abgerissen wurde. Deshalb ist auch niemand gekommen, außer Wladimir Kaurow.

Bei Aslamowa rennt er mit seinem Anliegen, das restriktive Meldegesetz abzuschaffen, offene Türen ein. Sechs Jahre lang lebte Aslamowa als weiblicher Bomsch im Dormitorium der Moskauer Staatlichen Universität. „Mit der Energie eines jungen Raubtieres“ habe sie sich damals in der akademischen Umgebung einen legalen Status in Moskau zu erkämpfen versucht. Mit Erfolg, wenn ihre Tätigkeit auf diesem Wege auch nicht unter den Begriff der wissenschaftlichen Arbeit fällt.

Heute bezeichnet sich Aslamowa als „vorbildliche Ehefrau und Mutter“. Ihr Wahlkampf, versichert sie, richte sich gegen die Willkür der Sicherheitsorgane, als ihre Losung bezeichnet sie: „Den Bauern Grund und Boden, Wasser den Matrosen und Milch den Jogurtbakterien!“

Schnell wird klar, dass Aslamowas Konkurrentin Marija Arbatowa Recht hat: Russlands Cicciolina geht es nicht darum, eine Wahl zu gewinnen, sie will nur wieder ins Gerede kommen. Dascha distanziert sich vom Feminismus oder dem, was sich die meisten RussInnen darunter vorstellen: „Warum soll man die Männer kastrieren, wenn man sich so prächtig mit ihnen arrangieren kann!“

Arbatowa, verheiratet und Mutter erwachsener Zwillingssöhne, hat einen gewaltigen Vorteil: ihre unschlagbare Medienprominenz. Jahrelang trat sie wöchentlich als Advocatus Diaboli in der Talkshow „Ich selbst“ auf, in der Frauen ihre Probleme präsentierten. Greinenden Kandidatinnen warf sie „unreifes Verhalten“ vor, dabei schlachtete sie sämtliche heilige Kühe der Sowjetmoral: vor allem die Bewahrung der Familie.

In einem gut gefüllten Hörsaal der pädagogischen Hochschule lauscht das Publikum dem TV-Star andächtig. „Wenn ihr wollt, dass nicht mehr fünfzehntausend Frauen im Jahr in unserem Land an häuslicher Gewalt sterben, wenn ihr im Falle einer Scheidung von eurem Ex-Mann mehr Alimente erhalten wollt, als Pampers kosten, und wenn ihr nicht zusehen wollt, wie eure Söhne in der Armee ermordet werden, dann wählt mich!“, ruft sie.

Ihre Mitkandidatin Aslamowa, so meint die Feministin, sei von bestimmten Oligarchen ins Rennen geschickt worden, nur um sie selbst zu diskreditieren. Inzwischen führt sie zahlreiche Prozesse gegen Zeitungen, die von den beiden „Dämchen mit den Problemen von Nachtfalterweibchen“ sprechen. Schon häufig stand sie vor verschlossenen Auditorien, telefonische Mord- und Überfalldrohungen gegen sie waren zu Beginn ihrer Kampagne noch an der Tagesordnung, ihr Wahlkampfleiter wurde krankenhausreif geschlagen. „Ich hätte nicht gedacht, dass diese Wahlen so kriminell sind“, sagt die Schriftstellerin: „Deshalb bin ich froh, dass ich mich der demokratischen ‚Union rechter Kräfte‘ angeschlossen habe. Wenn nicht die graue Eminenz Anatoli Tschubais hinter mir stünde, hätte man mich schon getötet.“

Druck auf Marija Arbatowa, so behauptet sie, habe über Mittelsmänner auch Michail Sadornow, der Deputierte der anderen großen demokratischen Partei, Jabloko, auszuüben versucht. Man habe sie überreden wollen, ihre Kandidatur zurückzuziehen, falls Sadornow und sie bei den Vorwahlumfragen Kopf an Kopf lägen.

Auch bei Sadornows Veranstaltungen versammelt sich das Publikum zahlreich. Der Frage nach seiner Verantwortung als damaliger Finanzminister für die Krise im August 1998 weicht Sadornow geschickt aus: Es hätte wohl nicht so kommen müssen, wenn Russland nicht gleichzeitig in den Strudel der Asienkrise geraten wäre. Auf Kaurows entsprechende Frage bekennt er sich zur grenzenlosen Freizügigkeit innerhalb ganz Russlands. Die „Person ohne Wohnsitz“ ist mit dieser Antwort schon ganz zufrieden. Trotzdem wird Kaurow nicht Sadornow wählen. Der Bomsch hat sich für einen Kandidaten entschieden, der sich vorwiegend für die Interesen der Autofahrer einsetzt, doch ohne Chancen ist. „Der hat als Jurist schon viele absurde Verkehrsgesetze angefochten“, sagt er. „Den Politikern großer Worte ziehen immer mehr Leute Interessenvertreter vor, die bewiesen haben, dass sie konkret etwas bewirken können.“

Die Vorstellung, dass es wieder zu einer kommunistischen Mehrheit kommen könnte, schreckt den Stadtstreicher nicht. Seine Interessen glaubt er nicht nur im, sondern auch vor dem Parlament durchsetzen zu können: „Wenn die Duma zusammentritt, werden ich und meine Schicksalsgenossen vor ihren Toren demonstrieren.“

Im Übrigen glaubt er, dass sich der gesunde Menschenverstand von selbst durchsetzt: „Ich habe Wolfsgesetze und alberne Gesetze kennen gelernt. Unsere letzten Parlamente machten lebensferne Gesetze. Der Erfolg war der gleiche, als hätten sie den Menschen befohlen, nicht mehr durch die Nase zu atmen. Ich werde noch erleben, dass hier humane und praktikable Gesetze gemacht werden.“