„Russland züchtet eine neue Taliban“

■ Wie das Kino den Tschetschenien-Krieg vorausahnte. Sergej Bodrow, Regisseur des Films „Gefangen im Kaukasus“,über die Lethargie der russischen Intellektuellen, den neuen Nationalismus und die Politik der Apokalypse. Der Feldzug als Wahlkampf

taz: Ihr Film „Gefangen im Kaukasus“ endet mit einem apokalyptischen Bild. Riesige russische Kampfhubschrauber tauchen über einem in den Bergen versteckten tschetschenischen Dorf auf. Im Nachhinein wirkt die 1995 gedrehte Szene fast wie eine Prophezeiung.

Sergej Bodrow: Das gesamte Projekt war leider eine einzige Prophezeiung. Ich hatte mit der Arbeit am Drehbuch angefangen, bevor der Krieg überhaupt begonnen hat. Es beruht auf einer alten Geschichte, einer Erzählung von Leo Tolstoi. Als das Drehbuch fertig war, begann der Krieg. Ich habe dann natürlich gezögert: Soll man einen Spielfilm über einen Krieg drehen, noch während dieser Krieg stattfindet? Ich redete mir jedenfalls ein, dass der Konflikt nicht lange dauern wird. Kein Mensch hätte damals gedacht, dass das alles in einer solchen Katastrophe enden würde. Tatsächlich hörte der Krieg zunächst auf. Und es gab sogar Leute, die behaupteten, dass „Gefangen im Kaukasus“, der ja auch in Cannes lief, seinen kleinen Teil zum Frieden beigetragen habe. Russen, Muslime, Politiker beider Seiten hatten sehr positiv und betroffen darauf reagiert. Auch Jelzin hat ihn gesehen und mochte ihn. Und natürlich waren wir alle froh, als dieser Alptraum endlich zu Ende war. So dachten wir jedenfalls.

Wie haben Sie die Stimmung in der Bevölkerung während des Drehens erlebt?

Es gab dort schon immer ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der russischen Zentralgewalt. Die Wurzeln gehen auf den Widerstand der islamischen Bergbevölkerung gegen die zaristische Expansion zurück. Aber man hatte sich halt mit den Russen arrangiert, und es gab auch keine tiefen Hassgefühle. Die Kaukasus-Region ist ja keine politisch-historische Einheit, sondern eine unendliche Vielzahl von Dörfern mit eigenen Dialekten, die sich oft schon im nächsten Tal ganz anders anhören. Nationalismus im klassischen Sinne bin ich dort also nie begegnet. Die Menschen sind zwar unglaublich stolz, aber es sind nicht die Fanatiker, als die sie in den russischen Medien dargestellt werden. Daher bin ich absolut davon überzeugt, dass es für den Konflikt eine politische Lösung gegeben hätte – zumindest vor den schweren russischen Bombardements.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Strategie der Nato während des Kosovo-Krieges und dem russischen Vorgehen in Tschetschenien?

Ich denke, für die russische Regierung war der Kosovo-Krieg so etwas wie eine moralische Carte blanche, denn danach konnte man die innenpolitischen Konflikte mit den gleichen Mitteln regeln. Der Westen hat ja immer die Rolle des schlechten Gewissens für Russland gespielt. Die Legitimation für diese Rolle hat er nach der Bombardierung Serbiens verloren. Natürlich ist die Brutalität, mit der die Russen jetzt in Tschetschenien vorgehen, eine andere als die der Nato in Serbien. Grosny sieht inzwischen aus wie Warschau nach dem Krieg. Aber für jemanden, der Bomben auf Innenstädte wirft, ist es schwer, einen anderen zu kritisieren, der das Gleiche tut.

Wie erklären Sie sich, dass Gewalt in diesem Konflikt das einzige Mittel ist, das für die russische Regierung in Frage kommt?

Sehen Sie sich unsere letzten Premierminister an: Primakow, Stepaschin, Putin. Alle kommen vom Geheimdienst. Also von einer militärisch organisierten Institution, die nicht gerade eine große demokratische Tradition hat. Diese Männer sind keine Demokraten, Putin benutzt den Krieg zur Profilierung, weil er Jelzins Nachfolger werden will. Wer kannte ihn denn schon vor ein paar Monaten? Und was hätte eine langwierige Diplomatie bzw. gezielte, überlegte militärische Operation seiner politischen Karriere genutzt? Jetzt ist er der große Feldherr. Aber um es ganz deutlich zu sagen: Ich denke, es gibt unter den Rebellen wirkliche Terroristen, Leute, denen das Leben auch ihrer eigenen Bevölkerung nichts bedeutet. Und ich verstehe auch, dass es in der politischen Logik eines Staates wie Russland liegt, bestimmte Provokationen wie die Übergriffe auf Dagestan nicht hinzunehmen. Aber die Reaktion dieses Staates ist inzwischen nur noch barbarisch, ein reiner Vernichtungsfeldzug. Das Führen eines solchen Krieges bedeutet zwangsläufig einen Verfall der politischen Kultur.

Sehen Sie die Eskalation des Krieges auch als Ablenkung von innenpolitischen Affären, wie dem Korruptionsskandal um die Familie Jelzin?

Ich glaube, diese Vorgänge hatten leider nur in den westlichen Medien die Dimension eines Skandals. In Russland erregt diese Art von Bestechlichkeit kein besonderes Aufsehen. Da hat Jelzins Tochter Tatjana mit den Kreditkarten einer dubiosen Baufirma für ein paar Millionen eingekauft. Na und? Ich glaube, man hätte es eher für etwas Besonderes gehalten, wenn sie es nicht getan hätte. Ein paar Millionen Dollar beiseite geschafft? Lächerlich! Das bedeutet ebenfalls einen Verfall der politisch-demokratischen Kultur. Ein allgemeines Laisser-faire, eine Gleichgültigkeit gegenüber allem, was da oben vorgeht. Die russische Bevölkerung hat längst die Illusion verloren, dass sie bei dem, was die politische Kaste tut, irgendwie mitreden kann. Daher auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg. Eben deren Krieg.

Wie hat sich die Haltung gegenüber dem Krieg in der russischen Öffentlichkeit während der letzten Jahre verändert?

Auf dramatische Weise. Während des ersten Tschetschenien-Krieges gab es in Moskau starken Widerstand in der Öffentlichkeit, die Medien waren sehr engagiert, es gab Demonstrationen. Alle sahen diesen Krieg als politischen Fehler. Der öffentliche Diskurs unterschied sehr genau zwischen Terroristen und Zivilisten. Selbst die Menschen, die für die Intervention waren, forderten nur gezielte Aktionen gegen die Rebellen. Inzwischen schert sich niemand mehr um eine solche Unterscheidung. Bomben drauf und Schluss!

Worauf führen Sie diese Stimmung zurück?

Ich habe die stärkste Veränderung direkt nach den schrecklichen Attentaten auf die Moskauer Mietshäuser beobachtet. Das waren natürlich barbarische Akte, und ich glaube übrigens nicht, dass der russische Geheimdienst dahinter steckt, wie manche Gerüchte behaupten. Das Risiko, dass eine solche Schweinerei herauskommen würde, ist einfach zu groß. Es gäbe einfach zu viele Mitwisser. Diese Attentate waren mit großer Sicherheit auch nicht von Dudajew in Auftrag gegeben. Wahrscheinlich war es die ganz radikale Fraktion der Rebellen, weiß der Himmel. Danach war Tschetschenien in der russischen Öffentlichkeit wie stigmatisiert. Und nach der primitiven Gleichung: „Wenn ihr unsere Frauen und Kinder umbringt, dann tun wir das Gleiche“, wurde die gesamte tschetschenische Bevölkerung plötzlich zu Terroristen umdeklariert. Aber wie groß ist der Bevölkerungsanteil an Rebellen? Vielleicht fünf, höchstens zehn Prozent.

Gibt es unter Ihren Kollegen, Künstlern und Intellektuellen, irgendeine Form von Widerstand gegen den Krieg?

Sehen Sie, als ich „Gefangen im Kaukasus“ drehte, musste ich mir von russischen Intellektuellen anhören, der Film gehe noch viel zu vorsichtig mit der russischen Seite um. Man sagte mir, ich hätte härtere Kritik üben sollen. Und jetzt? Nichts! Entweder bejubelt man die russischen militärischen „Erfolge“, oder man dämmert wie gelähmt vor sich hin. Natürlich gibt es einzelne und kleine Zirkel, die sich gegen diesen kollektiven Wahnsinn stellen, aber sie haben keine öffentliche Stimme.

Was sagen Sie dazu, dass Ihr Kollege, der Regisseur Nikita Michalkow, vor dem Hintergrund dieser Stimmung mit „Der Barbier von Sibirien“ einen nationalistischen Schinken über das zaristische Russland gedreht hat?

Michalkow war einmal ein guter Regisseur, aber sein Problem ist seine Eitelkeit. Er will, dass die Menschen ihn lieben. Deshalb liefert er ihnen ihre Großmachtfantasien und ihr altes Mütterchen Russland auf Zelluloid. Und er will immer noch Präsident werden. Er ist davon überzeugt, dass alle Frauen ihn wählen werden. Ich sehe ihn eher als exzentrische Figur denn als wirkliche Gefahr. Obwohl Sie natürlich Recht haben, dass sein Film genau im Trend des derzeitigen dumpfen Nationalismus liegt.

Haben Sie eigentlich noch Kontakt mit der Bevölkerung des Dorfes, in dem Sie „Gefangen im Kaukasus“ gedreht haben?

Das ist sehr schwierig, weil es dort kein Telefon gibt. Aber ich kenne Leute in Moskau, die Verwandte in der Gegend haben. Das Dorf selbst wurde nicht in die Kampfhandlungen einbezogen, aber die jungen Männer kämpfen auf Seiten der Rebellen. Damals, als wir dort drehten, waren die Einwohner gegenüber den islamischen Fundamentalisten sehr negativ eingestellt. Jetzt sieht das anders aus. Ich habe das Gefühl, Russland züchtet im Kaukasus eine neue Taliban heran. Den Preis dafür wird vor allem die nächste Generation zu zahlen haben. Von den alten Bonzen im Kreml wird das keiner mehr erleben.

Interview: Katja Nicodemus