Schlagloch
: Gut gelaunte Zyniker

Von Kerstin Decker

Jeder weiß, dass wir ums Überleben nicht so weitermachen können wie bisher

„Geist ist eingedrungen in die Natur, wie das Messer dringt in eines Baumes Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, dass ein Schwert im Herzen der Weltesche das Merkmal sei für ihre Gesundheit.“ Jean-Jacques Rousseau

16 Tage noch. Und völlig unmöglich, einen Jahrtausendwende-Kommentar zu schreiben. Wahrscheinlich war es noch nie so schwer, einen Jahrtausendwende-Kommentar zu schreiben, wie gerade jetzt. Vor 1.000 Jahren dagegen schien die Sache noch wünschenswert eindeutig: „Indem wir den Untergang dieser sinkenden Welt vor uns sehen, erwarten wir voll Furcht das Ende allen Fleisches.“ König Rudolf III. von Burgund. Heute würde man das wohl etwas anders formulieren. Vor allem nicht so pathetisch. Eher statistisch. 6 Milliarden Menschen sind wir jetzt. 24 Milliarden im Jahr 2070, wenn wir uns weiter mit derselben Geschwindigkeit vermehren. Also 192 Milliarden im Jahre 2175, 450.000 Milliarden im Jahre 2575. Im Jahre 2600, schrieb Denis de Rougemont 1987, werden sich dann alle Menschen berühren. Kein Kommunismus, aber auch eine Menschheitsverbrüderung. Rougemont hat dann vorsichtshalber aufgehört zu rechnen. Ein Ernährungswissenschaftler habe ihm aber versichert, man werde alle ernähren können, nur müssten sie eben im Stehen essen.

So sagt man das heute. Wir sind gut gelaunte Zyniker. Natürlich geht die Welt unter, aber muss man gleich ein Drama daraus machen? Erst mal bauen wir uns einen Lichtdom über der Siegessäule. Auch wenn der nach Albert Speer aussieht. Das nächste Jahrtausend wird auch nach Albert Speer aussehen. Irgendwie.

Das war klar. Es geht nicht. Man kann keine Millenniumskolumne schreiben. Es werden ja doch Weltuntergangskolumnen draus. Und es ist geschmacklos, ein Jahrtausend so anzufangen.

Jeder weiß, dass wir ums Überleben nicht so weitermachen können wie bisher. Und jeder weiß, dass wir genau das tun werden. Globale Zwänge nennt man das. Doch es langweilt uns schon, wenn wir das Wort hören. Wir kennen alle Argumente. Und auch die, die sie widerlegen. Die langweilen uns auch. Überhaupt der Typus des Widerlegers. Weltverbesserer und Kulturkritiker zum Beispiel. Alle die mit unerschütterlich gutem Gewissen. Und dass sie manchmal Recht haben, macht sie noch unsympathischer. Wir kennen ihre Konsequenz, ihre Militanz. Man kann heute einfach nicht mehr leben als Kulturkritiker. Denn es ist obszön, anderen den Spaß zu verderben. Und langweilig. Genau wie klassisches Kabarett. Daran erkennt man es am besten. Das klassische Kabarett hält Comedy für eine Verfallsform. Vielleicht hat es Recht. Zugleich aber ist Comedy viel humaner als Kabarett. Endlich Leute ohne den stahlharten Besserwisserblick. Und ohne dieses herablassende Lächeln der Sekundanten des Weltgeistes. Nur wer mit ihr spielen kann, bleibt auf Augenhöhe der Gegenwart. Ironie ist unser geistiger Normalzustand geworden. Unverbindliche Verbindlichkeit. Anteil nehmende Anteilnahmslosigkeit. Das ist völlig konsequent. Wir haben uns diese Welt nicht ausgesucht. Wir haben also das Recht, ihr zu zeigen, dass wir sie durchschauen. Auch als ihre Gefangenen.

Wenn das Merkmal klassischer Endzeitkulturen ist, dass sich von ihren Vertretern nicht mehr recht sagen lässt, ob sie ungewöhnlich vollendet oder ungewöhnlich dekadent sind, dann erfüllen wir diesen Tatbestand. Wir haben keine Angst mehr, nicht mal vor uns selbst. Auch ein Merkmal der Spätzeitler. Man denke an das alte Rom. Nach dem alten Rom kam erst mal lange Zeit nichts mehr und dann eben die erste Jahrtausendwende. Vor 1.000 Jahren (und auch 1033!) glaubte Europa an die Wiederkunft Christi. Christus war damals noch nicht so sehr der Heiland, eher ein Richter. Ein Weltenrichter. Sehr byzantinisch. Geißlerzüge gingen übers Land. – Wir werden vorsichtshalber nicht mit dem Flugzeug fliegen. Obwohl Mike Lawrie, der Europa-Chef von IBM, gesagt hat, er hätte keine Angst. Und den Sekt werden wir lieber nicht im Fahrstuhl trinken. Aber selbst wenn die Computer den 1. Januar 2000 als den 1. Januar 1900 lesen sollten – wir halten das nicht für ein böses Omen. Denn wir glauben nicht mehr, dass einer uns richtet. Wir sind unrichtbar geworden.

Zwei besonders übellaunige Besserwisser haben, was mit uns gerade geschieht, mal die „Dialektik der Aufklärung“ genannt. Die Aufklärung schlage in den Mythos zurück. Der Mythos sei der geschlossene Immanentzusammenhang dessen, was ist. Darum hatte Fukujama vor zehn Jahren vielleicht doch recht, als er (nach dem Zusammenbruch des Ostens) die Geschichte für beendet erklärte. Mythos ist Raum, nicht Zeit. Mythos ist, wenn Zeit nur noch verrinnt, aber nichts mehr ändert. Wenn es keinen Ausbruch mehr gibt. Nicht mal die Möglichkeit aufzuhören. Überhaupt, es geht auch ohne uns. Ohne uns geht es sogar immer besser. Vor zwei Jahren ließ IBM seinen neuen Supercomputer gegen den amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow antreten. Der Computer gewann.

Und nun die optimistische Stelle. Eine Millenniumskolumne braucht unbedingt eine optimistische Stelle. Haben Sie schon Houllebecqs Roman „Elementarteilchen“ gelesen? In einem Interview sagte Houllebecq gerade, man solle entweder Gott oder den Orgasmus haben. Klingt der Satz nicht nach Zukunft, nach einem neuen Anfang? Endlich eine Entscheidung! Obwohl die Alternative auch ein bisschen gemein ist. Doch dann fiel Houllebecq noch ein zweiter Satz ein: Im Liberalismus habe man weder – noch. Adorno hätte das wohl etwas anders gesagt, aber es passt in die Die-Welt-als-Mythos-These. Houllebecq kann hervorragend erklären, warum Länder, die den besten Sex haben, eben noch katholisch waren. Irland zum Beispiel. Houllebecq ist auch gerade nach Irland gezogen. Irland befinde sich gerade in der Phase des raschen Verschwindens des Katholizismus. Also im Augenblick des Anstiegs der Sexualität vor ihrem liberalismusbedingten endgültigen Versiegen.

Natürlich geht die Welt unter, aber muss man gleich ein Drama daraus machen?

Houllebecq ist eigentlich nur eine späte Variation auf Arnold Gehlen. Genau wie die fünf neuen deutschen Schnösel mit ihrem Bekenntnisbuch „Tristesse Royale“. Schon wieder so ein Untergeher-Titel. Nur dass da gar nichts mehr ist zum Untergehen. Gehlen nannte unsere Kultur „auskristallisiert“. Was uns bleibt, sei das Verdampfen aller Bestände. „Tristesse Royale“ zeigt das Ergebnis. Und bejaht es. Das ist konsequent, denn solange jemand noch Selbstdistanz wahrt, ist der Prozess nicht abgeschlossen. Bei den neuen deutschen Schnöseln ist es so weit. Gehlen war Melancholiker. Die Krachts, Nickels und Stuckrad-Barres würden ihn vermutlich auslachen.

Sind sie schon das, was Nietzsche „den letzten Menschen“ nannte? Augenblickslebewesen ohne Vergangenheit. Ohne Zukunft. Und ohne Trauer.

Es gibt einfach keine richtig optimistischen Bücher mehr. Andererseits haben Weltuntergänge natürlich auch Vorteile. Die Weltaufgänge sind dann jedesmal viel eindrucksvoller. Die nächste Jahrtausendwende-Kolumne wird bestimmt leichter.