Schüttelnund Backen

Henning Harnisch

Als ich neulich, so um kurz nach sechs am Abend, mein Leergut, eine Kiste links, eine rechts, zum Getränkehändler bringen wollte, fand ich mich plötzlich in einem amerikanischen Film wieder. Man kennt diese Szenen: Von Asiaten geführter Liquor-Store in Brooklyn wird von finsteren Gesellen brutal überfallen; der Ausgang dieser Begegnungen ist vorbestimmt, wahlweise einer oder gleich alle tot.

Ich wohne nicht in Brooklyn, aber kurz nachdem ich einen auffällig unauffälligen Jugendlichen (Warum steht der hier Schmiere?) passiert hatte, gab

■ Ja, ich war blöd – und allein mit 900 erkennungsdienstlich behandelten Berlinern

es Krach zu hören. Zwei Schritte weiter traf mein neugieriger Blick das Schaufenster des Getränkehändlers. Und traf beschissenerweise zwei jüngere Menschen, von denen einer der beiden eine Automatic – ich kenne meine Filme – auf den Boden hinter den Tresen richtete. Der Getränkehändler war nicht zu sehen. Warum der Film sich in meinen Alltag verirrt hatte, das war jetzt nicht die Frage, die beantwortet werden wollte. Stattdessen hatte ich nur eine verdammt lange Sekunde, meine Lage durchzudenken und eine klassische Entscheidung zu treffen. Sollte ich a) durch das Schaufenster springen, eine Rolle vorwärts machen und die beiden Gangster wegkicken, oder sollte ich b) meinen Arsch aus dem Bereich der Automatic entfernen. Also, schnell umgedreht, Kisten links und rechts weggeworfen und zügig um die nächste Ecke gebogen.

Und ...? Ja, ich habe die Polizei gerufen und, ja, der ältere Polizist, der kurze Zeit später am Tatort erschien und die Kiste, die der Getränkehandler im Übermut auf die Täter geworfen hatte (die Ursache für den Lärm) in Form von Scherben mit dem Fuß zusammenscharrte, machte die „68er-Richter“ für das Übel dieser Welt verantwortlich, während sich der Getränkehändler lediglich aufregte, dass er die Diebe, die mit sechzig Mark und einer Stange Zigaretten im Fluchtauto das Weite gesucht hatten, nicht mit einer hinterhergeworfenen Bierflasche zum Stoppen gebracht hatte.

Und, ja, ich war so blöd und meinte, dass ich eventuell zumindest den Schmieresteher wieder erkennen würde – auch wenn ihn die einzige andere Zeugin als circa dreißig und dunkelhaarig beschrieb, was ein leichter Widerspruch zu meiner Wahrnehmung war, denn mein Täter war zwischen sechzehn und zwanzig und dunkelblond – ja, ich war so blöd, denn das brachte mir von der Kripo, die inzwischen eingetroffen war und super nach Kripo aussah, eine Einladung zur erkennungsdienstlichen Stelle der Kriminalpolizei ein.

Dort hatte ich am nächsten Morgen aufzutauchen und dort hatte ich eine Wartenummer zu ziehen und mit anderen Zeugen im Wartezimmer zu warten, wo der Focus auslag. Anschließend durfte ich mich in eine Reihe von Menschen, die vor Computern saßen, einreihen, direkt neben einen von zwei Männern eingekeilten Mann, der behandschellt Späße über die Fotos seiner Kollegen im Computer machte. Dann ließ man mich allein. Allein, konfrontiert mit 900 erkennungsdienstlich festgehaltenen Berlinern zwischen sechzehn und zwanzig mit dunkelblonden Haaren, die nach und nach in einer endlosen Reihe durch Computerklick an mir vorbeizogen.

900 erkennungsdienstliche Fotos, die in der Summe einen symbolischen Ort bilden. An diesem Ort bauen sich sukzessive 900 Gesichter auf, zuerst schauen sie dich frontal an, dann das Profil nach links und rechts gedreht. 900 junge Menschen, die sich irgendwann zu einem Bild vermischen. Und letztendlich sind diese Jungs auch in voller Größe zu begutachten. Unter anderem sind die Schuhe zu sehen, und mit der herausgehobenen Ausnahme von jeweils zehn Nazis und Punks, die den Kampf an den Füßen tragen, bleibt der Eindruck von 880 jungen Menschen mit Basketballschuhen an den Füßen. 880 traurige junge Menschen mit Basketballschuhen an den Füßen.

Natürlich konnte ich den Täter in dieser deprimierenden Masse nicht finden. Meine Zeugenpflicht hatte ich hiermit erfüllt. Mit Basketball hat das wahrscheinlich relativ wenig zu tun. Nun denn, nenn es gewollte Verweigerung des Millennium-Aufzähl-, Abrechne-, Ausblick- und Listen-Terrors, oder nenn es Sentiment, wenn ich den Menschen, die in den Basketballschuhen stecken, eine Geschichte jenseits der Fotos wünsche. Und das hat garantiert nichts mit Basketball zu tun.