Der Tschetschenienkrieg ist die „natürliche“ militärische Konsequenz einer zutiefst gewalttätigen russischen Gesellschaft
: „Die Terroristen kaltmachen“

Mörder und Mafiosi haben beste Aussichten auf einen Platzim neuen Parlament

Russland führt heute nicht allein einen Feldzug gegen Tschetschenien. Im Verborgenen tobt noch ein anderer Krieg. Täglich finden Rekruten der Armee einen gewaltsamen Tod in ihren Truppenunterkünften. Auf den Polizeiwachen werden Menschen gefoltert, nahezu jeder zweite Verdächtige erleidet Misshandlungen. In Gefängnissen werden wehrlose Häftlinge vergewaltigt und umgebracht. Und: Rein statistisch hat jeder vierte russische Mann die grausame Erfahrung eines Gefängnisaufenthalts hinter sich.

Trotz seines unvergleichlich größeren Ausmaßes ist der Krieg in Tschetschenien lediglich die äußerste Konsequenz dieser allgegenwärtigen Gewalt in der russischen Gesellschaft.

Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der Favorit der Zarin Anna, Ernst Johann Biron, über den entthronten Zaren Peter III. herablassend bemerkt: Hätte jener die Menschen „hängen, köpfen und rädern lassen, wäre er heute noch Zar“. Nach seiner Inthronisation hatte Peter III. mit der Reformierung der russischen Armee begonnen und die Geheimkanzlei für Ermittlungen – eine von Ernst Biron geschaffene politische Polizei – schließen lassen. Im sechsten Monat seiner Regierung war der junge Zar von Militärs ermordet worden.

Präsident Jelzin, der nur zu gern den Zaren Boris gibt, scheint sich bei der Wahl seiner Günstlinge an die Mahnung Birons zu halten. Wladimir Putin ist bereits der dritte Favorit, den der senile Präsident aus dem „Gewaltapparat“ rekrutierte. Nach den Kriterien Birons ist Putin der Beste der drei. Er ist nicht so zimperlich, wenn es um die Anwendung von Gewalt geht, wie sein Vorgänger Stepaschin, und er setzt im Unterschied zum Geheimdienstler Primakow nicht auf komplizierte Intrigen. Seine Mittel sind ebenso plump wie willkürlich, aber sie sind effizient.

Für Putins Politikauffassung sind die strategischen Ziele des neuen Tschetschenienkrieges irrelevant. Auch die immensen „Kollateralschäden“ unter der Zivilbevölkerung sind nicht von Bedeutung. Was zählt, ist allein der militärische Erfolg. Sein Rezept ist einfach: Gewalt ohne Rücksicht auf Verluste bis zum Äußersten hochschrauben. Dieses historische Gewaltparadigma hat in Russland nur zu oft seine Effizienz bewiesen, um nach nur einem Jahrzehnt vorgeblicher Demokratie seine Gültigkeit zu verlieren.

Noch nie war in Russland der Einsatz ziviler Mittel gegen die Herrschaft der Gewalt erfolgreich. Alle Reformversuche endeten im Putsch oder blutigen Aufruhr. Die Antwort auf Gewalt war stets die noch brutalere Gewalt. Wieder und wieder gerieten die neuen zivilen Institutionen unter die zerstörerische Wucht dieser Lawine. Auch heute dringt die Gewalt aus den Kasernen, aus den Polizeirevieren und den Gefängnissen zunehmend in die Politik.

Nach dem jüngsten Bericht von Human Rights Watch haben die Folterungen in der russischen Miliz, der Polizei, das Ausmaß einer Epidemie erreicht. Wer sich nicht von vornherein schuldig bekennt, muss mit einer Folter namens „Elefant“ rechnen. Dabei zwingt man das Opfer in eine Gasmaske und spritzt Tränengas hinein. Eine andere Methode heißt „Schwalbe“: Dem Verdächtigen werden die Hände auf dem Rücken gefesselt, er wird an den Fesseln aufgehängt und anschließend verprügelt. Allein die Geläufigkeit dieser Namen ist Indiz dafür, dass Folter in der Miliz bereits selbstverständliches Inventar geworden ist. In den Nordkaukasus abkommandiert, misshandeln und erniedrigen dieselben Milizionäre jetzt in den Lagern die tschetschenischen Flüchtlinge.

Wer die Folter nicht aushält und sich ein Geständnis herausprügeln lässt, landet im Arbeitslager und ist dort der Willkür von Kriminellen ausgeliefert. Sie zocken um das Leben wehrloser Häftlinge. In den zehn Reformjahren seit 1989 sind zehn Millionen Menschen in diesen Gefängnissen gewesen. In Russland gibt es zehnmal so viele Strafgefangene auf tausend Einwohner wie in Westeuropa.

Wer nicht im Gefängnis war, hat die Schule der Gewalt in der Armee absolviert. Die frisch einberufenen Wehrpflichtigen unterstehen beim russischen Militär einem System von Erniedrigungen und Quälereien. Altgediente Soldaten behandeln neu angekommene Wehrpflichtige wie Leibeigene. Sie beuten sie aus, erniedrigen und verprügeln sie, lassen sie hungern und verweigern ihnen den Schlaf. Noch während des Afghanistankrieges forderten die „nicht statutengemäßen Verhältnisse“ – so die offizielle Bezeichnung – mehr Soldatenleben als der eigentliche Krieg. Seitdem hat sich die Situation eher noch verschlimmert. Im vorigen Jahr musste die Duma mit einer speziellen Verordnung auf die System gewordene Gewalt reagieren. Doch nach wie vor werden die Gewalttaten von der Mehrheit der Offiziere befürwortet und ausgenutzt. Manche Kommandeure sollen sogar Rekruten als Geiseln an die tschetschenischen Kämpfer verkauft haben. Durch solche Brutalitäten geprägt, schreckt die Armee in Tschetschenien vor keiner Misshandlung zurück. Sie bringt bedenkenlos Zivilisten um oder steckt Flüchtlingsbusse in Brand.

Prügel, Vergewaltigung, Folter – Russland ist durchsetzt von Brutalität

Für den ehemaligen Geheimdienstler Putin ist Gewalt eine natürliche und naturgesetzliche Erscheinung. Die Beamten der „Gewaltministerien“ (Verteidigung, Innenministerium) haben mit den Kriminellen und Banditen gemeinsame Denkmuster und sprechen die gleiche Sprache. Putin und seine Truppen wollen denn auch die tschetschenischen Terroristen – so der Premier wörtlich – „in der Latrine kalt machen“.

Gaunersprache kommt in Russland gut an. 60 Prozent der Bevölkerung – so die jüngste Meinungsumfrage – sind dafür, dass die Streitkräfte, die Polizei und der Inlandsgeheimdienst FSB gemeinsam die Macht übernehmen. Für die Staatsduma kandidieren etliche bekannte Mafiosi, denen brutale Auftragsmorde nachgesagt werden. Dieser schlechte Ruf ist gerade der Grund, warum sich diese Bandidaten – wie sie im Volksmund heißen – einen Wahlerfolg versprechen. Gewalttätigkeit imponiert, selbst Kriegsgegner akzeptieren sie. Einige rechtfertigen sogar die Geiselnahme von Patienten eines Krankenhauses durch die tschetschenischen Kämpfer während des letzten Krieges.

Diese breite Akzeptanz der Gewalt macht es der Weltgemeinschaft schier unmöglich, den Kreml mittels wirtschaftlicher oder politischer Sanktionen vom brutalen Vorgehen in Tschetschenien abzubringen. Das Kräftemessen mit dem Westen wäre für die russischen Führer eine willkommene Gelegenheit, die Ernsthaftigkeit ihrer Gewaltpolitik zu beweisen. In Russland sind die atavistischen Paradigmen wieder erwacht. Auf zunehmenden Druck wird das Land dementsprechend mit noch größerem Druck antworten, mit einer weiteren Eskalation der Gewalt. Boris Schumatsky