Wer noch lebt, kriegt eine Anzahlung

■ Einigung über Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern: Der Anteil der Wirtschaft liegt unverändert bei fünf Milliarden Mark, die Bundesregierung wird die Gesamtsumme auf zehn Milliarden Mark aufstocken

Berlin (taz) – „Wir haben uns geeinigt.“ Ein schlichter Satz des deutschen Unterhändlers Otto Graf Lambsdorff gestern im Radio verheißt den Schlusspunkt eines mehrmonatigen Dramas. Die Entschädigung der im nationalsozialistischen Deutschland beschäftigten Zwangsarbeiter wird aller Voraussicht nach am morgigen Freitag zumindest in den Grundzügen geregelt werden können. Bundeskanzler Gerhard Schröder und US-Präsident Bill Clinton haben dazu in einem Briefwechsel die letzten strittigen Fragen geklärt, sagte Schröder gestern in Berlin.

Der Sprecher der Opfer-Anwälte, Michael Hausfeld, hatte am Dienstagabend in Washington mitgeteilt, Deutschland werde den NS-Opfern insgesamt zehn Milliarden Mark zahlen. Die genaue Summe wollte Lambsdorff gestern nicht bestätigen, wohl aber sprach er davon, dass die deutsche Seite ihr Angebot, das bislang bei acht Milliarden Mark lag, aufgestockt habe. Die fehlenden zwei Milliarden Mark werden voraussichtlich von der Bundesregierung beigesteuert, da die deutsche Industrie ihr Angebot von bislang fünf Milliarden Mark nicht erhöht hat.

Sklavenarbeiter, die unter KZ-Bedingungen gearbeitet haben, sollen laut Lambsdorff bis zu 15.000 Mark erhalten, aus ihren Heimatländern deportierte Zwangsarbeiter sollen seiner Vorstellung nach mit etwa 5.000 bis 6.000 Mark rechnen können. Allerdings wird ihnen –frühestens ab Mitte 2000 –zunächst nur eine Abschlagszahlung von 30 Prozent ausgezahlt, weil die Zahl der Anspruchsberechtigten noch nicht abschätzbar ist. Die Opfervertreter zeigten sich erleichtert. Der Sprecher des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, Lothar Evers, begrüßte die Einigung. Es bleibe jedoch ein „zwiespältiges Gefühl“, wenn die Industrie nach Abzug aller Steuern nur noch ein Viertel der voraussichtlichen Gesamtsumme von mehr als zehn Milliarden Mark trage, sagte Evers dem epd.

„Das hätten wir schon vor drei Monaten erreichen können“, bemängelte Jacek Turczynski, der Leiter des polnischen Opferverbandes, in einem dpa-Gespräch. Zudem waren Polen zu einem großen Teil als Landarbeiter eingesetzt worden. Diese Gruppe ist bis jetzt von dem deutschen Fonds ebenso ausgeschlossen wie Zwangsarbeiter, die nicht in Deutschland eingesetzt waren. Das bemängeln Kritiker des Gesetzentwurfs, der die Ansprüche regeln soll. Turczynski erinnerte daran, dass auch die österreichische Wirtschaft von der Zwangsarbeit profitiert hatte. „Ich meine, dass deshalb auch Österreich eine halbe bis eine Milliarde Mark in den Fonds einzahlen sollte.“

Unterdessen ist die Bundesregierung auf der Suche nach kreativen Lösungen für das Zwei-Milliarden-Loch in der Stiftungskasse. Während die CDU Finanzminister Eichel (SPD) schon Steuerausfälle und Mehrausgaben in Höhe von siebeneinhalb Milliarden Mark vorrechnet, will Bundeskanzler Schröder heute offenbar nach der Ministerpräsidentenkonferenz die Länderchefs um Hilfe bitten. Während die SPD-regierten Länder Gesprächsbereitschaft signalisierten, zeigten sich Baden-Württemberg und Bayern reserviert: Der Bund sei für derlei Kriegsfolge-Zahlungen zuständig, heißt es unisono aus Stuttgart und München. Finanzminister Eichel erwägt derweil auch den Verkauf von Bundesvermögen, um den Fonds aufzustocken. Heide Oestreich

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