„Wie eine ideologische Narbe“

Shang Dewen, emeritierter Professor für Marxismus und Ökonomie an der Peking-Universität, über die verdrängte Kolonialgeschichte Chinas

taz: Wie analysieren Sie heute die Gründe des Kolonialismus?

Shang Dewen: Es gab zwei Gründe: die durch die industrielle Revolution bedingte Stärke des Westens und die Verderbtheit der letzten chinesischen Kaiserdynastie. Gegen beide historischen Kräfte war der selbstbewusste Widerstand der chinesischen Bevölkerung lange Zeit wirkungslos.

Welche Symbole der Kolonial-Ära leben heute fort?

Die japanische Kolonisierung hat sich im Nanking-Massaker verewigt, bei dem wahrscheinlich 300.000 Menschen starben. Das wichtigste Symbol der westlichen Kolonisierung ist der Garten des alten Sommerpalasts in Peking. Ich wohne in der Nähe und gehe da fast jeden Tag spazieren. Nichts als Trümmer sind zu sehen. Aber man erlebt oft Menschen, die ihren Hassgefühlen gegenüber den Kolonialmächten freien Lauf lassen.

Hegen auch Sie noch inneren Groll?

Das ist schon vorbei. Aber es existiert ein verstecktes psychologisches Trauma, das zwar keine materiellen Wünsche mehr produziert, aber sich diese Tage an Macao festmachen lässt. Unsere Propaganda, die die Wiederherstellung der vollen Souveränität feiert, bringt uns in ein psychologisches Gleichgewicht. Das ist wie eine ideologische Narbe. Wenn die Narbe aufreißt, tut es wieder weh.

Verdrängt China die Geschichte nur so lange, bis es wieder Weltmacht sein wird?

Normalerweise dürfte der Hass abklingen, vorausgesetzt es passieren nicht wieder Dinge wie die Nato-Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad, die den nationalistischen Widerspruch provozieren.

Kann der Westen China bei der Geschichtsaufarbeitung helfen?

Es wäre milde und hilfreich, wenn sich die Engländer, die wir als Hauptkolonialmacht des Westens erlebten, entschuldigen würden. Auch wenn die chinesische Regierung bisher nur eine Entschuldigung von Japan verlangt, die es bisher mündlich, aber nicht schriftlich gegeben hat.

Nach der Zerstörung ihres Heimatdorfes schlossen Sie sich den kommunistischen Truppen an und zogen 1949 als Sieger in Shanghai ein. Wie fühlten Sie sich damals?

Der Stolz des Siegers hat meine Jugend gerettet. Ich war mit 15 Jahren in die erfolgreiche Dritte Feldarmee eingetreten. Mit 18 verließ ich die Truppe wieder und wurde zum Buchhalter der Partei in Shanghai ernannt. Vorher hatte ich noch nie eine moderne Großstadt gesehen und plötzlich arbeitete ich im großen Zentralgebäude der ehemaligen Hongkong-Shanghai-Bank am berühmten Bundufer. Es gab Heizung und Klimaanlage, und ich dachte: Sehr gut, dieser Fortschritt!

Interview: Georg Blume