Anna, Fanny, Mimi ...

Sie haben ihren Familien und dem Jahrhundert ihren Stempel aufgedrückt, die Großmütter und Tanten dieser Republik. Auf die eine oder andere Art waren sie alle recht eigen. Ob sie nun Bauern heirateten oder Innungsmeisterin wurden. Eine überaus persönliche Würdigung von Fanny Müller

Von meinen Urgroßmüttern, theoretisch müssen es ja vier gewesen sein, kannte ich praktisch nur zwei, zumindest von Fotos und Erzählungen. Beide hießen Anna Katharina und vererbten mir Anna als zweiten Vornamen. In den Siebzigerjahren, als so genannte schlichte Namen wieder modern wurden, hatte ich überlegt, ob ich Anna nicht an die erste Stelle setzen sollte, nahm aber Abstand von der Idee, als ein Haufen Frauen, die Irmgard, Waltraud und Sieglinde hießen, sich plötzlich aus heiterem Himmel Anna nannten. Jedenfalls die, die sich nicht in Paula umtauften.

Meine beiden Annas gehörten noch zu der Generation, die im Alter von dreißig quasi mit dem Leben abgeschlossen hatten und fortan nur noch in langen schwarzen Kleidern auftauchten; auch ihre Schürzen waren im Höchstfall anthrazitfarben zu nennen.

Der Mann der einen Anna war Bauer, hatte einen Bart wie Rasputin und pflegte nach den Besuchen von Viehauktionen in Celle in einen Puff zu gehen. Das erzählten die Großtanten bei einer der zahlreichen Kaffee-und-Torten-Schlachten, die alle naslang in der Familie stattfanden. Sie glaubten, ich verstünde das nicht, aber ich guckte gleich im Lexikon nach. Was Uropa in einem großen Korb mit schmutziger Wäsche gesucht haben mag, blieb mir aber ein Rätsel.

Die andere Uroma Anna hatte einen Kätner in der Lüneburger Heide geheiratet, was bedeutete, dass sie buchstäblich jeden Pfennig umdrehen musste und ihre Haare statt mit einem Haaröl mit Honig glättete, der als einziges Lebensmittel reichlich zur Verfügung stand. Im Sommer erkannte man sie schon von weitem, so wurde erzählt, weil sie immer von einer Wolke von Wespen umgeben war.

Die nachfolgenden Generationen von Töchtern und Schwiegertöchtern, durch die Bank in den Neunzigerjahren geboren, erlebten dann in ihren Dreißigern die Zwanzigerjahre und können auf Fotos mit Bubikopf und kurzen Hängern ausgemacht werden. Dies waren also meine Omas und Großtanten, und die hätten so weit ganz flott ausgesehen, wenn sie bereits die dazu passende Figur gehabt hätten. Hatten sie aber nicht. Sie hatten noch die Figur des 19. Jahrhunderts, die erst durch ein schönes Korsett so richtig zur Geltung kommt.

Wie Oma Fanny, die außerordentlich fett war, aber immer selbstgestrickte Kleider trug. Zudem war sie extrem kurzsichtig und hatte stachelige Haare am Kinn. Deshalb mochten wir Kinder auch nicht von ihr geküsst werden. Das konnten wir vermeiden, indem wir stocksteif in der Bewegung verharrten, in der wir uns gerade befanden, wenn sie ein Zimmer betrat. Dann konnte sie uns nicht sehen. Als ihre eigenen vier Söhne noch sehr jung waren, war sie auch schon halb blind, aber sehr schlagkräftig. Hatten die Jungs mal was ausgefressen, so brachten sie vorsichtshalber immer ein Nachbarskind mit, das sie als Erstes durch die Tür schoben. Das konnten sie mit jedem Kind aber natürlich nur einmal machen und schlossen deshalb häufig neue Freundschaften.Oma Fanny war auch sehr sparsam. Eines Sommers, als ich sieben war, kam ich mit einem Furunkel in der Kniekehle ins Krankenhaus, und alle Onkel und Tanten brachten mir etwas vorbei: Bonbons, Schokolade, Erdbeeren. Oma schickte ein Glas eingemachte Senfgurken; mit denen war ihr Keller voll gestellt. Ihr Boden war dafür mit Bürsten jeder Art voll gestellt.

Oma Lisbeth war von anderem Schlag. Sie war mit drei Brüdern und zwei Schwestern auf einem Bauernhof aufgewachsen, und alle sechs Geschwister hatten den gleichen Charakter: intelligent, stur, lautstark und machtbewusst. Für die Jungs war das ja in Ordnung, aber die Mädels galten als „schwierig“ und mussten so schnell wie möglich aus dem Hause geschafft, also verheiratet werden. Das gelang aber nur mit Lisbeth und Mimi, der Jüngsten. Der Verlobte von Helene, der Ältesten, fiel im Ersten Weltkrieg, und sie nahm eine Stellung als Telefonistin an; anschließend machte sie eine Lehre als Schneiderin und war keine fünfzehn Jahre später Innungsmeisterin in St., wo sie einen eigenen Salon führte und Dutzende von Lehrmädchen und Gesellinnen unter ihrer Fuchtel hatte. Wie ihre Mutter war sie immer in Schwarz gekleidet, aber es war ein elegantes Schwarz, und ihre Kleider waren aus Seide. Alle Welt hatte einen Heidenrespekt vor Tante Helene. Zum Teil, glaube ich, wegen ihrer Nase, die vornehm gebogen war und ihr etwas Hochmütiges und Aristokratisches gab. Als Kind war sie im Kuhstall ausgerutscht und hatte sich das Nasenbein gebrochen, aber wegen einer solchen Lappalie wurde damals kein Mediziner bemüht.

Mimi hatte einen Großbauern abgekriegt und konnte eine Vielzahl von Knechten und Mägden herumkommandieren. Sie war aber die sanfteste der Schwestern, und ihr Regiment war kein sehr strenges. Sie sorgte allerdings dafür, dass Augustus, der Großknecht, der ein Glasauge hatte, welches er ganz oben auf dem Küchenschrank aufbewahrte und nur an Feiertagen einsetzte oder wenn wir Kinder ihn dringend darum baten – dass Augustus sich mit Elli, einer etwas debilen Magd, verlobte und nicht bloß rumpoussierte, damit alles anständig auf dem Hof zuging. Zur Verlobung schenkte er ihr übrigens einen Freilauf für ihr Fahrrad.

Nur Oma Lisbeth war am Arsch. Diese Frau besaß eine Energie, die ausgereicht hätte, mit links ein Weltreich zu führen, aber sie hatte nur Fritz – unseren Opa, der Dorfschullehrer war, nach den ersten Ehejahren den Kampf aufgab und sich von nun an seinen Pfeifen und Bienenkörben widmete – sowie zwei eingeschüchterte Töchter, eine davon meine Mutter. Das war schon ein Jammer.

Von meinen vielen echten und angeheirateten Großtanten habe ich nicht alle kennen gelernt, weil rund die Hälfte in Süddeutschland wohnte – und Reisen war noch nicht modern. Nur an zwei von den Südlichen erinnere ich mich. Tante Gertrud war die eine. Sie bewohnte nach dem Tode ihres Mannes einen stillgelegten Bahnhof und vermietete Zimmer an junge Leute, mit denen sie prima auskam. Jedes Jahr legte sie ihnen im Januar einen Brief mit einer Forderung nach Mieterhöhung auf die Zimmer. Dann schauten die jungen Leute sie nur tief verletzt an und sprachen einige Tage nicht mehr mit ihr, woraufhin sie die Briefe wieder zurückzog. Bis zum nächsten Januar.

Die andere Tante hieß Lolo und war mit Onkel Adolf verheiratet, der von ihr verlangte, dass sie täglich die ganze Wohnung bohnerte. Das tat sie auch, aber nur bis zu dem Tag, an dem sie feststellte, dass er gar nicht bemerkte, wie gut oder schlecht oder ob sie überhaupt gebohnert hatte – worauf es ihm ankam, war der typische saubere Geruch nach Bohnerwachs. Von Stund an ersparte sie sich eine Menge Arbeit, indem sie in allen Zimmern gut getarnt unter Sofas und hinter Fenstervorhängen Schälchen mit einem Klecks Bohnerwachs aufstellte.

Von Tante Bleimi habe ich schon einmal erzählt. Das war die, die uns den Tango in ihrer Küche beibrachte und gleichzeitig Zigaretten rauchen, kochen, stricken und reden konnte. Sie war die Tochter eines englischen Missionars und in China aufgewachsen. An regnerischen Nachmittagen lehrte sie uns das Mah-Jongg-Spiel. Meistens gewann sie, und so hatten wir Kinder am Ende der Sommerferien oft mehrere hunderttausend Mark Schulden bei ihr.

Tja, liebe Enkelinnen und Großnichten, die Sie bis hierhin gelesen haben – fragen Sie sich jetzt etwa, was das alles soll? Was Sie daraus lernen sollen? Tieferer Sinn und so weiter? Tut mir leid, das ist wohl nicht drin. Ich glaube nicht, dass man aus kurzen lustigen Geschichten was lernen kann. Auch nicht aus langen traurigen. Jede muss ihren eigenen Blödsinn höchstselbst durchziehen; allerdings auch die netten Sachen, das ist wahr. Ich habe dies aufgeschrieben, weil ich mich am Ende dieses Jahrhunderts noch einmal an die Frauen meiner Familie erinnert habe, die Kinder des letzten Jahrhunderts waren. Übrigens hätte ich auch eine Familiensaga von drei Bänden (im Schuber) daraus machen können, das geben diese Frauen allemal her – und dabei habe ich einige von ihnen noch nicht einmal erwähnt. Aber die taz sagt, dass das ihren Etat überfordern würde.

Fanny Müller, taz-Wahrheitskolumnistin und Buchautorin, lebt in Hamburg. Zuletzt erschien von ihr: „Mein Keks gehört mir“, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1999, 123 Seiten, 12,90 Mark