Aha, die Figur ist verrückt

Böses Ende: Der Regisseur Michael Heicks versenkt Gilla Cremers Solostück „Vater hat Lager“ nach Carl Friedman im TiK  ■ Von Ralf Poerschke

Manchmal geschehen im Theater eben doch noch Dinge, die einen vollkommen ratlos und auch mit einer gewissen Wut im Bauch zurücklassen. Was hat an diesem Abend in den letzten zehn Inszenierungsminuten den Regisseur geritten? Masochismus? Verfehlter Originalitätseifer? Dummheit? Oder gar...?

So kam das: Die Hamburger Schauspielerin Gilla Cremer hat die 1991 erschienene Erzählung Vater der Niederländerin Carl Friedman für die Bühne bearbeitet. In dem Buch beschreibt die 1952 in Eindhoven geborene Autorin Fragmente ihrer Kindheit am Ende der 50er Jahre. Diese wird geprägt vom Schicksal ihres Vaters als KZ-Häftling; die ihm zugefügten Demütigungen und Misshandlungen wirken fort, alle Eindrücke des Nachkriegsalltags wecken in ihm Erinnerungen an die Nazi-Gräuel; er „hat“ noch immer „Lager“. Was nicht ausbleiben kann: Das Trauma des Vaters überträgt sich in unterschiedlichsten Manifestationen auf die Erzählerin und ihre beiden Brüder.

Friedman wählt einen Ton, der auf kindliche Erzählweisen zwar eindeutig rekurriert, aber stets eine „erwachsene“ literarische Strategie im Auge behält. Durch den autobiografischen Hintergrund sind inhaltliche Tiefe gegeben und bittere Komik legitimiert. Ein großartiges Werk, das sich in seiner Form – 40 nur vage einer Chronologie folgende Episoden mit jeweils sehr lakonischen Pointen – den narrativen Konventionen hinsichtlich eines Spannungsbogens widersetzt. Gilla Cremers Adaption Vater hat Lager greift diese konvolutische Textstruktur im Prinzip auf, ohne ihr sklavisch zu folgen.

Die Bühnensituation im TiK anlässlich der deutschen Erstaufführung ist nur die Andeutung eines Raumes: ein Rechteck von auf dem Boden liegende Neonröhren. Hier, im Irgendwo, kommt Cremer an, mit einem riesigen Koffer, und packt aus. Sie berichtet, wie ihr Vater für einen Kessel mit verschimmeltem Hundefutter sein Leben riskierte, wie er einen sadistischen Kapo erdrosselte und es bedauerte, den Mord nicht länger ausgekostet zu haben, wie sie selbst all ihre Spielsachen verbuddelte, damit die SS sie nicht finden konnte, wie sich ihr kleiner Bruder Simon auf den nächsten Krieg vorbereitete, der unmittelbar bevorstehen musste, wie ihr großer Bruder Max sich seine Füße im Kühlschrank abzufrieren trachtete, um eine des Vaters Leid angemessene „Beschädigung“ vorweisen zu können.

Gilla Cremer ist eine fantastische Schauspielerin, die nicht umsonst seit Jahren vornehmlich Soli gibt (zuletzt in Hamburg:Die Kommandeuse und Morrison Hotel unter der Regie von Johannes Kaetzler), weil sie mit Leichtigkeit alle anderen an die Wand spielt. Sie sprüht über vor Nervosität, sie rennt gestikulierend im Kreis, sie zieht sich aus und falschherum wieder an, sie betrinkt sich fulminant fröhlich, sie überschüttet sich am Rande des Nervernzusammenbruchs mit Wasser und hat zwischendrin unglaublich niedliche Momente. Alle fünf Minuten hängt sie im Text, als gehöre das zur Figur. So gelingt es ihr über 70 Minuten, das Publikum wahrhaftig zu fesseln.

Sicher, der Regisseur Michael Heicks hat hie und da weitaus mehr getan, als es zuträglich scheint: etwa eine reichlich sinnfreie Tanzeinlage aus dem Boden gestampft. Heicks will genau dort besonders originell sein, wo er dem Text offenbar misstraut (anstatt Brüche durch Auslassungszeichen zu markieren) – und so versenkt er zum Schluss die gesamte Aufführung. Gilla Cremers Monolog wird fahrig, Geschichtsfetzen fliegen nurmehr unverbunden umher, sie verkriecht sich in ihrem Koffer. (Aha, die Figur ist durchgedreht und vollkommen irre geworden.) Ein Schwof-Stück von Tom Waits überdröhnt ihre letzten Worte. (Aha, die Figur hat nichts Wichtiges mehr mitzuteilen.) Am Ende ist mithin nicht allein die Inszenierung zuschanden gemacht, sondern auch die Autorin der Buchvorlage diffamiert. Und ebendaher rührt die Wut des Kritikers.

nur noch Sonnabend, 20 Uhr, TiK