Mon Sherry

Eine rissige Wolkenbank, durchstrahlt von bleichem Mondlicht. Schatten zogen geisternd über Dolores' wächsernes Gesicht. Tio presste seine glühenden Lippen auf ihren Hals, wie es seine Gewohnheit war, wenn Dolores von ihrem abendlichen Ausritt in die weitläufige Hazienda zurückkehrte. Doch diesmal erwiderte sie seine Liebkosung nicht. Er blickte sie fragend an – war etwas vorgefallen? Ihr zugeknöpfter Blick verbarg nur ungenügend den Widerwillen, den Tios Empfang ihr bereitete.

Liebte sie ihn nicht mehr, ihn, der sie aus der bedrückenden Enge ihrer elterlichen Bodega hinausgeführt hatte in den behäbigen Luxus gutsherrlichen Wohllebens? Tio gürtete die rote Schärpe, die sich gelöst hatte, von neuem um seinen schlanken Leib. Dolores musterte ihn verächtlich. Mit der übertriebenen Härte der ausgebrannten Leidenschaft küsste sie seine Wange. Schluss, dachte er, es ist Schluss. Ist es Juan, Roberto, Miguel, Luis oder gar ... Romualdo? Tios Kehle schnürte sich zusammen, die Geschichte ihrer Liebe ratterte an ihm vorbei wie ein Güterzug voll schönster Erinnerungen. Und jetzt – entgleist!

Damals, ja damals, als er, der begehrenswerte Erbe der Sherry-Dynastie derer von Pepe, an jenem denkwürdigen Nachmittag nach langem, ermüdendem Ritt in den Vorhof der Hazienda eingaloppierte, der Dolores' Vater als Verwalter vorstand. Er, Tio, befand sich auf einer Inspektion der weit verstreuten Pepeschen Domänen, wo, nachdem sein Pferd versorgt, Dolores ihn ehrerbietig begrüßt und ihm eine Erfrischung gereicht hatte, nicht ohne ihm einen Blick von unverbildeter Anmut zuzuwerfen, der ihn erschauern ließ, dergestalt, dass er trotz der großen Müdigkeit, die seinen Gliedern innewohnte, die gerade fünfzehnjährige Dolores, zarte Knospe Andalusiens, wie er sie nach dem ersten Kusse nannte, noch in derselben Nacht zum Weib sich nahm.

Zehn Jahre währte ihr Glück – und nun dies! Ein den Stamm des Lebens auszehrender Bazillus nagte an ihm. Was hatte er falsch gemacht? Hatte er seiner Frau nicht alles gegeben, was ein Mann dem Weib nur geben kann? Hatte sie nicht alles, wonach die Gefährtinnen ihrer Jugend sich nur die Finger lecken konnten – ein Leben nach Gutsherrenart?

„Was ist?“ Zaghaft fragte er, ohne Hoffnung auf Linderung seines bitteren Schmerzes. Dolores, mit der Kälte tödlichster Verachtung, erwiderte nichts. Ihre hohe Gestalt schien Tio den schaurigsten Visionen eines El Greco entsprungen. „Was ist?“

„Sandeman“, sagte sie trocken, „ich habe mich für ihn entschieden.“ Stumm entwand sie sich seiner vergeblichen Umarmung und ging – eine bleiche Blüte unter schwindendem Mond.

Eine Träne bahnte sich still ihren Weg über seine Wange, versickerte kurz oberhalb seines bebenden Barts. Tio, in die schlimmstmöglichen Verhältnisse seines Wesens zusammengesunken, von lebensverfälschendem Schwindel gepackt, schluchzte ein Mitleid heischendes „So bleib doch, mon Sherry!“ Doch unerhört versickerte seine Bitte in der Nacht. Es blieben ihm nur seine Fässer ... Rüdiger Kind