„Afrika steht nicht vor der Tür“

Der erste Migrationsbericht in der Geschichte der Bundesrepublik räumt mit Legenden auf. Die Mehrzahl aller Einwanderer kommt auf Grundlage gesetzlicher Regelungen

Berlin (taz) – Für den flüchtigen Blick sind die Fakten beeindruckend: Knapp neun Millionen Menschen wanderten in den 90er-Jahren in die Bundesrepublik ein. Nicht zuletzt diese Zahl verführte Bundesinnenminister Otto Schily vor einem Jahr zu der Feststellung: „Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht.“ Alles halb so wild, meint nun die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen, Marieluise Beck.

Zwar, so Beck, habe es in den 90er-Jahren eine „relevante Einwanderung“ gegeben. Inzwischen aber habe sich die Lage wieder beruhigt. Die Zuwanderung sei vor allem den geopolitischen Veränderungen nach 1989 und dem Krieg in Exjugoslawien geschuldet gewesen. 1997 und 1998 hätten dagegen mehr Ausländer Deutschland verlassen, als zugezogen sind.

Auch die Zahl der Asylbewerber und der Spätaussiedler ist in diesem Jahr mit jeweils unter 100.000 auf den niedrigsten Stand seit 1987 bzw. 1989 gesunken. Bei der Aufnahme von Flüchtlingen pro 10.000 Einwohner nimmt Deutschland im europäischen Vergleich heute nur noch einen Mittelplatz ein. Das alles und viel mehr ist im „Migrationsbericht 1999“ nachzulesen, dem ersten in der Geschichte der Bundesrepublik. Mit dem gestern in Berlin vorgestellten Dokument will die rot-grüne Regierung dem Thema stärkere Beachtung sichern.

Marieluise Beck dringt nun auf kontinuierliche Migrationsberichte, „die zu einer Einrichtung gesellschaftlicher Dauerbeobachtung werden müssen wie zum Beispiel die Arbeitslosenzahlen“. Die Ausländerbeauftragte erhofft sich damit eine Versachlichung der Diskussion um eine „zentrale Zukunftsaufgabe“.

Der Migrationsbericht räumt mit einer Reihe von Legenden auf. Deutschland wurde in den Neunzigerjahren keineswegs von Einwanderern überrannt. Den 8,8 Millionen Zuzügen stehen 5,8 Millionen Wegzüge gegenüber. „Nicht Afrika steht vor der Tür, wie häufig suggeriert wird. Migration findet zu zwei Dritteln innerhalb Europas statt“, so Beck. Und dies werde sich mit dem Ausbau und der Erweiterung der EU noch verstärken. „Globalisierung und eine Rückkehr zur Nationalstaatlichkeit gibt es nicht.“

Obgleich sehr viel hin und her gewandert wird, handelt es sich um eine geregelte Einwanderung. Ob EU-Binnenmigranten, Spätaussiedler, Werkvertrags- und Saisonarbeiter aus Nicht-EU-Staaten, jüdische Zuwanderer aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Exjugoslawien oder Ehegatten und Familienangehörige von so genannten Drittstaatsangehörigen – sie alle dürfen aufgrund gesetzlicher Regelungen einwandern.

Die Ausländerbauftragte drängt nun auf eine Neuorientierung der Politik. „Der Bericht beweist, wir sind ein Land mit regulierter Einwanderung.“ Aus dieser Tatsache müssten nun in allen Politikbereichen die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden. So stehe nicht nur eine politische, sprachliche und kulturelle Unterweisung für die Neuankömmlinge auf der Tagesordnung.

Mit Nachdruck weist Beck darauf hin, dass von 7,3 Millionen Ausländern 5 Millionen nicht türkischer Herkunft sind. Gründe genug, die Fixierung der Ausländerpolitik auf das deutsch-türkische Verhältnis zu beenden. „Was wir brauchen, sind nicht binationale sondern interkulturelle Ansätze, die künftig viel stärker Einzug in die Städteplanung, berufliche Bildung, den Kindergärten und den Schulen Einzug halten müssen.“

Eberhard Seidel