Das grüne Herz schlägt für Zensur

Berliner Videodrom: Stumpft der Mensch vom Gaffen ab?

An einem Dienstag im November gefiel es der Berliner Staatsanwaltschaft, das Videodrom zu überfallen. Mit 50 Polizisten im Schlepp durchsuchte sie acht Stunden lang die Kreuzberger Videothek, sackte Computer und Aktenordner ein, nahm die Kundenkartei mit und beschlagnahmte gut 666 Filme, darunter Werke von Fassbinder, David Lynch und Emir Kusturica, auch die Fernsehserie „Holocaust“ und Erwin Leisers Dokumentarfilm „Mein Kampf“ wurden abgegriffen. Dann wurde das Videodrom geschlossen und versiegelt. Grün waren bei der Aktion nicht nur die Uniformen des Überfallkommandos – auch der Kreuzberger Bezirksbürgermeister Franz Schulz ist ein Grüner.

Immerhin regte sich eine Menge Protest. Viele Menschen empörten sich, schrieben Solidaritätsnoten und machten Krach. Nach drei Wochen und knapp vor dem finanziellen Ruin konnte das Videodrom wieder öffnen. Hätte es keinen öffentlichen Druck gegeben, der Laden wäre so futschikato, wie die Staatsanwaltschaft das wünscht: Die Computer des Videodrom hat sie weiterhin einbehalten, denn die Jugend des Landes muss beschützt werden.

In der Diskussion um die Schließung des Videodrom zeigten sich Teile der Öffentlichkeit aber auch in ihrer ganzen gehirngewaschenen Pracht. Nach den Amokschüssen von Bad Reichenhall und dem Mord an einer Lehrerin in Meißen sind die Hosen voll und mancher meint, ein bisschen Zensur könne nicht schaden. Es gehe darum, „Willkür und Missbrauch im Spannungsfeld zwischen Phantasie und Realität Einhalt zu gebieten“, teilte Christiane Peitz im Tagesspiegel mit. Das gute alte Grundgesetz war vergleichsweise märchenhaft intelligent: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Dagegen aber steht das neurotische Verlangen, das Böse in Form seiner Abbildungen aus der Welt zu schaffen. Unter anderem zu diesem Zweck wurden vor 20 Jahren die Grünen gegründet.

Auch die FDP-Sorte Beschränktheit brach sich Bahn. „Das einzige, was Kreuzberg an Wirtschaftskraft zu bieten hat, ist der vitale Mix aus szenetypischem Gewerbe, Kiezgastronomie und innovativen Dienstleistern. Hier werden genau jene Steuern erwirtschaftet, von denen auch die Kreuzberger Bürokratie lebt“, wandte Karl Hermann, Chefredakteur des Tip, gegen die Schließung des Videodrom ein. Den Umkehrschluss, dass jede kommerziell unbedeutende Kultur damit staatlicher Willkür ausgeliefert wird, zog er lieber nicht. Es war Jörg Lau von der Zeit vorbehalten, etwas uneingeschränkt Richtiges zu sagen: „Es ist ein Akt der Barbarei, diesen einzigartigen Ort zu schließen.“

Die Freiheit der Kunst braucht ein breites Kreuz. Dass im Windschatten der Kunstfreiheit Zeug mitsegelt, das man ekelhaft, widerwärtig, abstoßend oder auch nur furchtbar langweilig findet, muss man aushalten. Pornographie existiert ihrem Wesen nach vor allem in den Köpfen der Leute, die ständig von ihr reden. Was aber ist Pornographie? Was ist jugendgefährdend? Müssen junge Menschen, die mehrfach täglich medial in das tote Gesicht Gerhard Schröders hineinsehen, nicht irreparable seelische Schäden davontragen? Stumpft nicht der Mensch vom Gaffen ab? Und von dem, was er begafft? Ist der Titel des Kriegstagebuchs von Rudolf Scharping, „Wir dürfen nicht wegsehen“, genau deshalb nicht eine Aufforderung zu pornographischen Handlungen? Gibt es einen kulturellen Unterschied zwischen Doris Schröder-Köpf und jener Nullhundertneunzigerin, die „Profifrauen ab 40 jetzt noch extremer“ keucht und dabei an einem Stiletto-Absatz herumleckt? Und wenn es diesen Unterschied gäbe – wie sollte ein Jugendlicher ihn erkennen?

Diese Fragen mögen bitte all diejenigen klären, die sich so gerne über Pornographie ereifern.

Wiglaf Droste