Sintflutartige Regenfälle in Venezuela

Die vorläufige Bilanz des Schreckens nach verheerenden Überschwemmungen: Mindestens 300 Tote, 7.000 Vermisste und 130.000 Obdachlose. Tausende Soldaten in unermüdlichem Rettungseinsatz ■ Von Ingo Malcher

Buenos Aires (taz) – Das ersehnte Ziel für viele heißt Caracas. Wer in der venezolanischen Hauptstadt ankommt, hat sein Leben gerettet. Am Flughafen der Stadt hat das Militär ein Notlager für mehr als 3.000 Menschen aufgeschlagen. Die Krankenhäuser platzen aus allen Nähten, auf den Korridoren sitzen Kranke und Verletzte. Sintflutartige Regenfälle haben Venezuela in den letzten Tagen heimgesucht, die Überschwemmungen sind die schlimmste Katastrophe in dem Land seit Langem. Die offizielle Bilanz des Schreckens: Rund 300 Tote, 7.000 Vermisste und etwa 150.000 Obdachlose. Diese Zahl dürfte steigen, je weiter die Rettungstrupps ins Land vorstoßen.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez hat die Koordination der Rettungsteams persönlich übernommen. „Wir befinden uns in einer Schlacht, in einer Tragödie. Das Wichtigste ist jetzt, so viele Menschenleben zu retten, wie nur möglich“, so Chávez. Nach seinen Angaben gibt es Orte, „die voll sind mit Leichen“. Die Rettungsarbeiten werden zur Militäroperation, an der alle drei Waffengattungen der Streitkräfte beteiligt sind. Mindestens 12.000 Soldaten wurden abkommandiert, darunter 1.000 Fallschirmjäger, die Trinkwasser, Medizin und Kleidung verteilen und Techniker bereitstellen, um die Stromversorgung wieder in Ordnung zu bringen. Im Minutentakt landen olivgrüne Helikopter auf dem Flughafen und bringen neue Überlebende, ehe sie wieder abheben, auf der Suche nach weiteren Überlebenden.

In dem Küstenstaat Vargas sind bislang 40 Tote geborgen worden. Die Regenmassen haben Schlamm- und Gerölllawinen losgetreten, die Straßen unpassierbar gemacht und die zusammengezimmerten Häuser der Armen zerstört. Die Strände an der Karibikküste sind zu Start- und Landeplätzen der 40 Militärhubschrauber geworden, die am laufenden Band Opfer ausfliegen. Bislang wurden von dort 15.000 Menschen evakuiert. Die Marine hat in Vargas damit begonnen, Schutt und Holzstämme aus dem Meer zu fischen, um Evakuierungen auf dem Wasserweg möglich zu machen. Vom Berg El Avila, der Caracas und La Guaira voneinander trennt, wurden riesige Felsbrocken losgerissen, die alles zerstörten, was ihnen in den Weg kam: Autos, Strommasten und Häuser. Sechs weitere Staaten sind von dem Unwetter betroffen. In Miranda wurde ein Wasserkraftwerk geflutet und in Falcón traten Flüsse über Ufer und zerstörten Brücken und Straßen.

Bislang ist das ganze Ausmaß der Katastrophe nicht erkennbar. Radiosender und Fernsehstationen sind förmlich zu Sozialeinrichtungen geworden. Rund um die Uhr schicken sie die Namen von Geretteten über den Äther und versuchen, Vermisste ausfindig zu machen. In den improvisierten Flüchtlingslagern oder auf Hausdächern warten unzählige Menschen auf Rettung. Und ein Ende des Regens ist nicht in Sicht.