Die letzten zehn Tage
: Saisonale Tendenzen

Der Weihnachtsmann interviewt den sexuellen Missbrauch

Es quäkte laut aus dem Mann, der mit Bier und Plastiktasche in der U-Bahn Richtung Krumme Lanke saß. Vielleicht litt er an dieser seltsamen Krankheit, bei der es immer wieder unkontrolliert, laut und obszön „Hitler“ zum Beispiel oder „Ficken“ aus Leuten laut herausspricht. Ein „Schluckauf des Gehirns“ und ungeklärt, woher das kommt. Alle paar Minuten brüllte es quiekend aus dem Mann, der wahrscheinlich nur extrem dicht war, „Deutschland“ und einmal auch „Atomkraftwerke müssen weg“. Ein schwimmendes Gefühl kam vorbei, weil in den seltsamen Sachen, die andere machen, die Möglichkeitsformen von einem selbst aufscheinen. (Wenn jemand mit einem Koffer mit zwei Millionen bei mir vorbeikäme, würde ich auch nicht nein sagen – so viel zu Ceaușescu.) Die Leute in seiner Nähe blieben demonstrativ sitzen.

Später traf ich Julia. Bis vor kurzem war sie bei der taz und ist inzwischen Sekretärin beim Spiegel. Sie ist trotzdem noch sehr prima. Wir stellten begeistert fest, dass wir beide rückwärts sprechen können. Allerdings auf unterschiedliche Art. Während sie nur die einzelnen Wörter rückwärts spricht und die Reihenfolge der Wörter in einem Satz intakt lässt, spreche ich den ganzen Satz rückwärts. Sie sagte: „uD tsib nie fpokmmuD“; ich sagte: „hcua hcod uD“.

Eine andere Freundin läuft fröhlich mit Sachen wie „Herzlichen Glühstrumpf“ durch die Weihnachtszeit. Meine ehemalige Mitbewohnerin hatte mir im letzten Dezember eine Nachricht auf das Scrabblefeld gelegt und dabei restlos alle Steine verbraucht: „Ey Detlef Lass uns morgen oder übermorgen scrabbeln Mein Name hat höhere Punkte Judith Kahveci“.

Am Sonntag gab’s Erlebnis- und Ereignisfrei. Die „Abendschau“ wurde von einem Trachtenlümmel mit Bürstenhaarschnitt und albern folkloristischer Weste moderiert. Die durchgehende Biederkeit der „Abendschau“ ist erstaunlich. Eine total peinlich aufgesetzte Kindergartentantenstimmlage sagte: „Der Hund, der auf sich hält, geht nicht mehr ohne.“ Danach gab’s Weihnachtsschleim für und über Claus Peymann. Und dafür kriegen die ca. das Zehnfache von dem, was unsereiner! Am Ende allerdings war plötzlich Wladimir Kaminer im Fernsehen und warb für eine Weihnachtsfeier im Bolschewistencafé „Burger“. Unter seinem Namen stand diesmal „Discjockey“. Vor zwei Monaten war er noch im Spiegel als „russischer Intellektueller“ zitiert worden.

Im Offenen Kanal interviewte ein Mann im Weihnachtsmannkostüm drei polizeiliche Feinde des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Eine Frau hatte ein rotes Ampelmännchen an ihr Kostüm gesteckt, ein Mann sah aus wie ein Uhu und sagte nie was, der dritte hatte einen Schnurrbart. Zwischendurch wurde immer die Nummer einer Polizeidienststelle in der Keithstraße eingeblendet. Der Weihnachtsmann fragte unter anderem, ob es „saisonale Tendenzen“ in Sachen Kinderpornografie gebe. Hinter seinem Kopf baumelte ein handtellergroßer Weihnachtsmann von der Studiodecke. Detlef Kuhlbrodt