Das Klo und das Mädchen ■ Von Wolfgang Herrndorf

Neulich Nacht um elf stand ein junges Mädchen – mit junges Mädchen meine ich, sie sah aus wie 15, war aber 19 – vor meiner Tür und fragte, ob sie für 50 Pfennig mal mein Klo benutzen könne. Sie habe im Haus jemanden besuchen wollen und der sei nicht da. Ich ließ das mit den 50 Pfennig gut sein, zeigte ihr die Toilette und ging wieder an den Computer.

Nach einer dreiviertel Stunde erinnerte ich mich, dass da jemand auf mein Klo gegangen war. Ich lauschte. Es war ganz still. Vorsichtig fragte ich durch die Tür, ob alles in Ordnung sei. „Ja“, antwortete eine Stimme souverän. Nach einer Stunde rief ich eine Freundin an und erkundigte mich, wie lange Frauen denn so brauchten, um einen Tampon zu wechseln oder sich die Pulsadern aufzuschneiden. Statt mir Trost zu spenden, machte sie sich über mich lustig, vermutete sexuelle Absichten auf verschiedenen Seiten und drängte, ich solle doch noch mal fragen. Als Wohnungsbesitzer hätte ich das Recht, alle zehn Minuten zu erfahren, was auf meiner Toilette vorgehe. Diesmal erhielt ich aus dem Bad die Antwort, es sei nach wie vor alles in Ordnung. Mittlerweile musste ich selber dringend. Ich zierte mich eine Weile und pisste schließlich eilig in die Spüle, mit der Gewissheit, dass genau in diesem Moment das Mädchen in die Küche kommen und mich dabei überraschen und für einen depravierten Charakter halten würde. Ich irrte.

Nach etwa anderthalb Stunden hörte ich rhythmische Duschgeräusche, und die Freundin am Telefon klärte mich darüber auf, dass in meinem Bad jetzt onaniert würde. „Quatsch“, sagte ich. Nach exakt 110 Minuten, ich habe auf die Uhr gesehen, kam das Mädchen aus dem Bad.

„Alles in Ordnung?“, fragte ich einfallslos, während sie in Zeitlupe ihre Jacke anzog. Sie trug Kleidung im Wert von vielleicht zwölf Mark, sah aber selbstbewusst und indolent aus. Ich erkundigte mich, ob sie wisse, wie sie jetzt nach Hause komme.

Nachdem sie gegangen war, setzte ich mich vor den Computer, um die Welt per E-Mail von den absonderlichen Vorgängen auf meiner Toilette zu unterrichten. Nach einer Stunde kam sie wieder und wollte telefonieren. Einen richtigen Plan schien sie nicht zu haben. Schließlich gab ich ihr Geld fürs Taxi.

Als ich um drei ins Bett gehen wollte, klappte ich einmal meine Klobrille herunter und sah, dass sie vollgeschissen war. Zwar mühsam mit Papier weggekratzt; aber es ist nicht jeder so ein Reinlichkeitsfetischist wie ich. Beim Putzen wunderte ich mich dann, warum die Klorollen so seltsam über meine Fliesen verteilt waren, und stellte fest, dass unter ihnen der Fußboden das gleiche Schicksal erlitten hatte wie die Brille, nur dass es hier hausfraulicher versteckt ward. Das Handtuch fand ich erst zwei Tage später, sorgfältig mit den 20 Quadratzentimetern nach oben drapiert, die nicht –

Was genau ich davon halten soll, weiß ich nicht. Diese Abwesenheit jeglichen Schamgefühls scheint mir eine sehr beneidenswerte Sache zu sein. Mir ist es manchmal ja schon peinlich, wenn ich auf der Straße die Richtung ändern muss, weil ich etwas vergessen habe. Aber so komplett? Wo führt das hin? Im Nachhinein denke ich, ich hätte die 50 Pfennig auch annehmen können.