Die letzten zehn Tage
: Sensualismus mit Sichtschutz

Unmittelbarkeitssehnsucht und Jahresendnervosität greifen um sich. Irgendwo in der Urbanstraße brennt’s. Ein Tannenbaum?

Sensualismus aller Orten. „Fühlen, was geschieht“. Dem Fühlen der B.Z.-Reklame fehlt das Subjekt, weil es ein Empathiephänomen meint, bei dem Sportler, Journalist und Leser das Gleiche empfinden und drei Parteien ein Gefühl unter sich teilen sollen. Die Erfüllung der Zuschauersehnsucht nach Unmittelbarkeit wird überall mit allen Mitteln inszeniert: im Schauspiel des Lebens als Dokusoap, in Unfall- und Polizeiverfolgungssendungen, in Talkshows mit Anbrüllen, bei Schlingensief oder im „Fight Club“. Überall „Diesen und Meinen“ (Hegel) und: Beweis dir und allen gefälligst, dass es dich gibt. Der Filmemacher Kornel Miglus wollte eine Dokusoap über mich drehen, weil ich ständig meine Möbel umräume. „Mal gucken, wie sich das anfühlt“ ist ebenfalls immer noch sehr beliebt, wenn jemand z. B. eine neue Droge ausprobiert, um zu gucken, wie sich das anfühlt, um danach den Freunden davon zu erzählen, die dann besser entscheiden können, ob sie auch wollten, dass es sich bei ihnen so anfühlt.

Gestern hielten wir sofort in der Urbanstraße neben dem „Spielparadies“ an, um zu gucken, wie sich das anfühlt, weil da ein Balkon im ersten Stock brannte. Ein türkischer Mann sagte, das käme von diesem „Scheißweihnachten“. Ob da tatsächlich ein Tannenbaum brannte, konnte man nicht sehen.

Bekannte von Bekannten jammern über ihr super bedauernswertes Dasein bei irgendwelchen Boulevardzeitungen, erzählen was von Befehlsnotstand und den Unmöglichkeiten irgendwelcher schwachsinniger Chefredakteurskretins, die zu viel weißes Haschisch nehmen.

Im U-Bahnhof Hermannplatz guckt ein Mädchen mit dezenter Reizwäsche von H&M in sich hinein: „Prepare yourself. Peace comes from within“ bzw. „Listen to your inner voice. Always. Find your inner peace and let it grow.“ Können vor Lachen.

Zwei Penner sind auf einer Bank zwischen ihren Flaschen und Plastiktüten in sich zusammengesunken. Mehrere BVG-ler rütteln an ihnen. Sie sollen sich vernünftig hinsetzen. Vernünftig sitzen heißt, dass der Kopf nicht auf den Knien liegen darf. Das dauert alles sehr lange. Dann kommt auch meine U-Bahn.

Am Samstagnachmittag hatte der glatzköpfige junge Mann im Haus gegenüber wieder mit außer Hose an seinem Schreibtisch gesessen und onaniert. Sein Rücken ist vom vielen Sitzen schon ganz krumm geworden, und in seinem Monitor ist die Welt. In dem Fenster daneben tollten Türken mit ihren Kindern herum. So unterschiedlich sind die kulturellen Gewohnheiten. Nach einem halben Jahr der offenen Ausschweifung hat der Mann nun endlich einen Sichtschutz vor seinen Schreibtisch gestellt.

„Kann es sein, dass am Jahresende alle so ein bisschen ziemlich nervös sind?“, fragt eine befreundete Vergolderin. Sicher. Jahresendnervosität greift um sich, auch wenn sie nicht so panisch daherkommt wie in Los Angeles, wo die Lager der Kaufhäuser wegen der Umstellung am Ende des Monats leergekauft werden.Detlef Kuhlbrodt