Der Welt kleinstes TV

■ Niemand kann behaupten, er habe das Kleingedruckte nicht gelesen. Warnung und Kleinanzeige eines Fernseh-Verrückten

1 Bekenntnis

Es lohnt nicht, vor Schaufenstern stehen zu bleiben. Hinter Schaufensterscheiben lauert nur Tand. Ein schneller Blick, eine unüberlegte Entscheidung, schon hat man etwas gekauft, was man nicht brauchen kann. Dem Einzelhandel sollte man sich nur nähern mit einer klaren Vorstellung darüber, was man später in der Tüte heimzutragen gedenkt. Man sollte genau wissen, was man will. Ich wusste schon immer, was ich wollte: einen Mini-Fernseher. So einen kleinen Mini-Fernseher zum Herumtragen, für unterwegs, mit Kopfhörern. Nie wieder Langeweile an der Bushaltestelle. Nie wieder Langeweile in der S-Bahn. Nie wieder Langeweile im Zug. Nie wieder Langeweile als Beifahrer. Nie wieder Langeweile. Immer Fernsehen.

2 Kauf

In der Unterhaltungselektronikabteilung des Berliner „Kaufhaus des Westens“ gibt es neben der Kasse einen Glaskasten. Dort sind hinter Millimeter dünnem Panzerglas die Wunderwerke der fortschreitenden Miniaturisierung ausgestellt: digitale Diktaphone, zinkfarbene CD-Player, Mini-Disc-Abspieler, Mini-Fernseher.

Ich: „Guten Abend. Ich hätte gerne einen Mini-Fernseher. Schnell.“ Verkäufer: „Sehen Sie sich den mal an. Batterien sind schon drin.“ Bald würde er mein sein. Es handelte sich, wie ich erst viel später feststellte, um ein Gerät der Marke Casio, den EV-550. „Der ist neu. Der hat ’ne TFT-Aktiv-Matrix. Da können ’se auch von der Seite draufkucken.“ Wow. TFT-Aktiv-Matrix. Ich war überzeugt. „Sind Kopfhörer dabei?“ – „Nein.“ – „Ist ein Netzteil dabei?“ – „Nein. Kostet extra.“ Ich erwarb den EV-550 durch lässiges Hinüberschnippen meiner ec-Karte – wie ich erst viel später feststellte, zum Preis von 369 Mark. Der Verkäufer rief mir noch einige Sätze hinterher: „Die Batterien können Sie behalten! Und vergessen Sie nicht, den Kassenbeleg aufzuheben! Sie können zwei Wochen lang umtauschen!“

3 Gerät

Der EV-550 von Casio ist ein Farbfernseher mit Flüssigkristallanzeige. Sein Empfangsbereich umfasst die UHF-Kanäle 21 bis 69 sowie die VHF-Kanäle 2 bis 12. Sein Bildschirm besteht aus einer Farb-Flüssigkristallanzeige des Typs TN, der sich durch hohe Auflösung und ein TFT-aktives Matrix-Treibersystem auszeichnet. Für ausreichende Beleuchtung sorgt eine Hintergrundleuchte aus Leuchtstoff mit hoher Leuchtdichte. Die Bildschirmgröße beträgt 5,4 cm in der Breite und 4 cm in der Höhe. Der EV-550 verfügt über eine Teleskopantenne, einen 20-mm-Lautsprecher, einen 3,5-mm-Mini-Ohrhörerausgang, eine Buchse für externe 6V-Stromversorgung und eine Audio/Video-Eingangsbuchse, ebenfalls vom 3,5-mm-Mini-Buchsen-Typ. Er hat eine Leistungsaufnahme von etwa 3,2 Watt, seine Umgebungstemperatur sollte null Grad Celsius nicht unter- und vierzig Grad Celsius nicht überschreiten. Seine Abmessungen sind 77 mm in der Breite, 30 mm in der Tiefe und 123 mm in der Höhe. Ohne Batterien ist der EV-550 mit etwa 180 Gramm geradezu ein Fliegengewicht.

4 Ein Traum wird wahr

Kaum daheim angekommen, packte ich meinen frisch erworbenen EV-550 aus und setzte ihn in Betrieb. Glasklares Bild, glasklarer Ton. Eine bisher ungesendete Folge von „Star Trek: Raumschiff Voyager“. Momente reinen Glücks. Zugegeben: der stationäre Betrieb des EV-550 ist etwas gewöhnungsbedürftig. Einerseits möchte man das Gerät ja nicht ständig mit der Hand vor Augen halten, schließlich widerspricht das dem passiven Charakter des Fernsehkonsums. In Ermangelung eines Tisches stellte ich den Mini-Fernseher auf die rechte Sessellehne. Dank der TFT-Aktivmatrix machte es nichts aus, dass ich nur aus der Schräge das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgen konnte. Ungefähr zwanzig Minuten lang durfte ich so die hinreissende Jeri Lynn Ryan betrachten, welche sich auf gefährlicher Mission durch das im Weltall verschollene Raumschiff Voyager räkelte. Dann wurde der Empfang schwächer. Auch drehen und wenden der ausgezogenen Teleskopantenne half nichts: die drei Walkman-Batterien des Mini-Fernsehers gaben ihren Geist auf. Zum Glück hatte ich drei weitere Batterien vorrätig.

Diese hielten ungefähr dreißig Minuten. Während ihrer geringen Betriebszeit waren sie beunruhigend heiß geworden. Besorgt blickte ich in die Bedienungsanleitung: „Nur Alkali-Batterien verwenden. Die Batterielebensdauer wird beachtlich verkürzt, wenn Mangan-Batterien verwendet werden. Bei niedriger Batteriespannung wird Wärme erzeugt. Wärme stellt jedoch keinen Fehlbetrieb dar.“ Für den ausschließlich empfohlenen Batterietyp „LR6“ verspricht die Betriebsanleitung eine Lebensdauer von „etwa 3,5 Stunden“. Ich hatte keine „LR6“-Batterien. Nur mickrige „R2“. „LR 6“-Batterien fand ich erst zwei Wochen später in einem Foto-Spezialgeschäft. Sie sind sehr teuer und werden normalerweise zum Betrieb leistungsintensiver Blitzlichtgeräte eingesetzt. Aber das war mir egal, plante ich doch eine längere Bahnreise. Berlin – Hamburg, das ideale Operationsgebiet für meinen EV-550. Eigentlich ab Bahnsteigkante: die öde Wartezeit könnte ich so auch überbrücken.

Am Bahnhof selbst zögerte ich allerdings, den EV-550 zum Einsatz zu bringen. Irgendwie wäre ich mir mit dem Ding in der Öffentlichkeit bescheuert vorgekommen. Für die Zugreise jedoch hatte ich mir mindestens eine Folge aus der neuen Staffel der „Simpsons“ vorgenommen. Pünktlich um 17.25 Uhr, kurz vor Hamburg-Bergedorf, schaltete ich ein. Um was es in dieser „Simpsons“-Episode ging, erfuhr ich allerdings erst viel später. Was sich mir im Zug bot, war folgendes: Krusty, der Clown, hatte eine Showeinlage, dann war der Ton weg, dann das Bild, dann kurz wieder da: Monty Burns in herrlicher Pracht, böse Pläne ausheckend, aber welche? Das Bild zuckte, verschwand, tauchte auf: Itchy und Scratchy! Was tut die Katze da? Bildstörung! Verzweifelt wendete ich die Antenne. Da! Homer überreicht Bart etwas Taschengeld. Dialogfetzen. Rauschen. Dröhnen. Weg.

Ein wenig besser ging es, wenn ich die Antenne in direkten Kontakt mit dem Rahmen des Zugfensters brachte. Wieder machte ich mir die Vorzüge der TFT-Aktiv-Matrix zunutze: Ich blickte schräg von der Seite auf den Bildschirm sowie auf Bart und Lisa im Garten. Kurze Zeit später setzte der Empfang vollständig aus. Die ehemals kraftvollen Batterien schienen heiß zu pulsieren. Besorgt blickte ich in die Bedienungsanleitung: „Die tatsächliche Batterielebensdauer kann in Abhängigkeit von der Marke abweichen.“ Es folgt eine lange Liste der „Orte mit schlechtem Fernsehempfang“. Ich will sie in all ihrer erschreckenden Vollständigkeit dokumentieren. Unbrauchbar ist der EV-550 also „in großer Entfernung von Fernsehsendern, in der Nähe von Stahlbetongebäuden oder Bergen. In Kellergeschossen, in einem Tunnel oder in Stahlbetongebäuden. In der Nähe von Hochspannungsleitungen, Leuchtstoffröhren-Lichtreklamen oder Rundfunkstationen mit benachbarten Sendefrequenzen. In der Nähe von Eisenbahnen, Hochstraßen oder Flugplätzen. In Zügen oder Kraftfahrzeugen.“ Kurz: in der zivilisierten Welt. Entschieden packte ich den Mini-Fernseher weg.

Wieder daheim, legte ich den EV-550 beiseite. Jetzt liegt er vor mir, auf dem Schreibtisch, seit Wochen unberührt. Die TFT-Aktiv-Matrix staubt langsam ein. Aber das sieht man nur, wenn man von der Seite draufblickt.

5 Kleinanzeige

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