„Putin ist noch kein Premier für Friedenszeiten“

Der russische Historiker und Soziologe Igor Kljamkin über die Ergebnisse der Parlamentswahlen, das Phänomen Putin, das so genannte liberale Lager und Russlands Beziehungen zum Westen

taz: „Wir sind in einem anderen Land aufgewacht“, kommentierte Boris Beresowski den Wahlausgang. Ging es Ihnen ähnlich ?

Igor Kljamkin: Die Ergebnisse sind keine große Überraschung, zumindest nicht, was die Gewichtung der Parteien betrifft. Natürlich hat sich in der politischen Landschaft ein deutlicher Wandel vollzogen. Erstmals wird die kommunistische Opposition die Duma nicht mehr dominieren.

Wären die Wahlen ohne den Krieg so ausgegangen ?

Ohne Tschetschenien und die Popularität von Premier Wladimir Putin gäbe es die Vereinigung „Einheit“ nicht. Dann hätte Primakows Bündnis „Vaterland – Ganz Russland“ das Rennen gemacht.

Russland nahm selten den direkten Weg zum Ziel. Gibt es Anzeichen, dass es wieder auf den Reformpfad zurückfindet ?

1991 stand Jelzin an Putins Stelle. Er demontierte das alte System. Putin hingegen verkörpert die Formierung einer neuen Staatlichkeit. Die Anforderungen, die an ihn als Führungsfigur gestellt werden, sind andere. Der jetzige Typ von Konsolidierung gibt Anlass zu Sorge: Er beruht allein auf Krieg. In Russland stellt das einen traditionellen Lösungsversuch dar: Man kreiert ein fiktives Feindbild. Diese Logik muss ersetzt werden. Bisher weiß niemand, wodurch. Daher ist nicht auszuschließen, dass man nach dem Ende des Krieges neue Feinde sucht.

Tragen die Wahlen zur Stabilisierung der Gesellschaft bei?

Die wirklichen Probleme tauchen erst im Herbst auf, einige Zeit nach den Präsidentschaftswahlen. Auch Putin steht dann vor der Frage, wie und worauf sich ein gesellschaftlicher Grundkonsens in friedlichen Zeiten aufbauen lässt. Es sollten Wirtschaftreformen in Angriff genommen werden. Nur: Wird die Mehrheit in der Duma mitspielen? Unser Parlament bleibt unberechenbar.

Ein Paradox: Die Popularität des Präsidenten ist auf dem Tiefpunkt, aber seine Partei „Einheit“ schneidet glänzend ab ?

Der Premier kompensiert die schwache Legitimität des Präsidenten. Solange keine Widersprüche zwischen Präsident und Premier auftreten, wird der Premier zum Faktor präsidentieller Legitimität. Wir müssen zwischen politischer und juristischer Legitimität unterscheiden.

Demnach verkörpert Putin die politische Legitimität und Jelzin die juristische. Woher stammen denn die Wähler der „Einheit“ ?

Sie rekrutieren sich vor allem aus dem ehemaligen Wählermassiv Jelzins. Sie sind reformorientiert. Ein Teil wanderte zur „Union der rechten Kräfte“ (UdrK), der größere Teil stimmte für die „Einheit“. Erst Putins Unterstützung verhalf der „Einheit“ zum Durchbruch.

Putin, ein Phänomen oder ein normaler Ministerpräsident?

Er bringt die intellektuellen Voraussetzungen für das Amt mit. Seine wirklichen Qualitäten zeigen sich erst, wenn er eine konstruktive Reformpolitik betreiben muss. Putin muss seine politische Identität erst finden. Vorläufig ist er ein Kriegspremier, aber noch kein Regierungschef für Friedenszeiten.

Gibt es so etwas wie einen minimalen gesellschaftlichen Grundkonsens?

Nur in der Tschetschenien-Frage. In der Wirtschaftspolitik sind das eher Lippenbekenntnisse. Solange unser Parlament nur populistische Gesetze verabschiedet, schaffen wir den Durchbruch nicht. Daran ändern auch Wahlen nichts. Die Duma übernimmt keine Verantwortung für ihre Entscheidungen.

Vor vier Jahren galten „Jabloko“ und die Liberalen als verfeindete Flügel der Reformbewegung. Warum verlangt heute niemand mehr, die beiden Parteien sollten ihre Kraefte zu bündeln?

Die Liberalen der UdrK spielten im Wahlkampf mit dem Label „Europäer“ und „Westler“. Inzwischen vertritt aber nur noch „Jabloko“ Werte, die für die zivile Gesellschaft des Westens stehen. Die Liberalen bezeichneten das Ultimatum an Grosny erst auf Druck des Westens als einen Fehler. Damit verrieten sie, wie weit sie sich schon in die Abhängigkeit von Putin begeben hatten. Auch sie verwechseln Krieg mit „antiterroristischen Maßnahmen“. Damit haben sie den Rahmen einer liberalen Partei verlassen. Sie sind reformorientiert, doch nicht liberal.

Die Präsidentenwahlen 1996 waren ein Richtungsentscheid zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Wie lassen sich diese Wahlen charakterisieren?

Die Wahlen waren ein Kampf zwischen der sowjetischen Bourgeoisie, vertreten durch das Gespann Primakow/Luschkow, und der neuen jüngeren Bourgeoisie. Auf der föderalen Ebene gewann die neue Bourgeoisie, in den Regionen konnte sich die sowjetische behaupten. Gerade sie kontrolliert die starken, wirtschaftlich selbstständigen Regionen. „Vaterland“ und die Kommunisten sind nicht dasselbe. Die Kommunisten repräsentieren einen Kompromiss zwischen Vergangenheit und Gegenwart, in der die Vergangenheit dominiert. Der Kompromiss Primakows basiert auf der Gegenwart, versucht aber die Vergangenheit der Realität anzupassen.

Wie wird sich das Verhältnis zum Westen entwickeln?

Die Kommunisten sind von der realen Macht abgeschnitten. Ansonsten hängt alles von Tschetschenien ab. Die Erfahrung zeigt, dass der Druck vom Westen nützlich ist. Geht er in Sanktionen über, wird das für uns gefährlich. Das Regime verfügt nicht über genügend Ressourcen, um unter solchen Bedingungen zu überleben.Interview: Klaus-Helge Donath