Hohelied des Pi-pa-po

Vom kompetenten Zuschauer: Das Hamburger Institut CineGraph untersucht den deutschen Musikfilm der 30er Jahre  ■ Von Dietrich Kuhlbrodt

Jetzt ist es wissenschaftlich erforscht und abgesegnet, dass das Volk seinen Spaß an den deutschsprachigen – oder müßte man nicht sagen: deutschtönenden – Musikfilmen der 30er Jahre haben durfte. Zäsuren wie das Jahr 1928 (Tonfilm!) oder 1933 (Nazis!) dürfen wir nicht nur vernachlässigen, wir müssen es sogar, wenn wir der vorläufigen Evaluierung der Untersuchung des Hamburgischen Centrums für Filmforschung, CineGraph, folgen. Denn es gab ein Kontinuum, das – jedenfalls ein paar Jahre lang – gegenüber dem, was höheren Orts beschlossen war, resistent blieb. Dabei handelt es sich um die Zuschauer/Zuhörer und um deren persönliche Kino-Erfahrungen. Der Code lautet auf deutsch („Mainstream“ war damals ungebräuchlich): Pi-pa-po.

Als die Filme singen lernten. Innovation und Tradition im Musikfilm 1928-1938 ist ein junges Buch, redigiert von Malte Hagener, 28, und Jan Hans, eine Generation älter und Dozent für Popularkultur und Filmtheorie an der Universität Hamburg. Neben ihnen schreibt eine europäische Elite darüber, wie der Musikfilm der frühen Jahre wahrgenommen wurde. Das ist spannend zu lesen. Die politischen Raster funktionierten schon damals nicht richtig, und die sterile Filmanalyse von heute kriegt die Wirkung nicht in den Griff. Hagener und Hans wenden sich daher den Zuschauern zu und ihren „Organen der Erfahrung“, wie Negt/Kluge das genannt hatten; heute fällt dies unter die allseits favorisierte Zuschauer-Kompetenz. Der Rezipient ist nämlich nicht so blöd, wie Akademiker gerne denken. Es gab schon damals ein Publikum, das sich weder von Politikern noch von Kritikern einschüchtern oder agitieren ließ, „sondern sich aus den Populartexten nahm, was es brauchte“ (Hagener/Hans). Zuschaueranalyse statt Filmanalyse fördert zu Tage, dass der Genre-erfahrene Kinogänger durchaus wusste, was bare Münze, was gelogen, was Wahrheit, was Ironie, was Serien-Devianz, was Subversion war. –

Das Buch singt ein Hohelied auf den kompetenten Zuschauer; es ist zu schön, um wahr zu sein. Aber es ist plausibel. Die Autoren des Bandes, die gern Theorie und Praxis vereinen, haben ein Gespür für Rezeptionsforschung. Marie-Luise Bolte stellt „Thesen zum Filmsong“ auf; sie ist in Hamburg Kantorin und Organistin. Janina Jentz, 28, überbaut sehr respektabel mit „Warenfetisch und Spektakel“ die im Buch mit Primär-Werkzeug geschürften Fakten; gleichzeitig arbeitet sie praktisch-journalistisch und schriftstellerisch: für Lesbarkeit ist gesorgt.

Größere Dinge kommen ins Visier, wenn der Wissenschaftler aus den Höhen der akademischen Warte herniedersteigt. Der hochberühmte Professor Thomas Elsaesser bezweifelt, ob die Frage „Wem gehört die Operette?“ bislang richtig beantwortet ist. Denn, so müssen wir uns aus Amsterdam sagen lassen, wir haben, durch die Zäsuren 1928 und 1933 irre geführt, eventuell ein grandioses Vermächtnis übersehen, das uns unsere Zuschauersenioren vermacht hatten. Es geht um nichts Geringeres als eine missachtete, pflegebedürftige, aber liebe und herzliche Utopie. Elsaesser: „Könnte es sein, daß uns das späte Weimarer Kino eine Utopie mit auf den Weg gegeben hat, die sich erst in der Zukunft einlösen läßt: nämlich daß man ,die Wahrheit' gar nicht braucht, um mit dem ,anderen' in den Dialog zu kommen, und dennoch ein der Demokratie verpflichtetes Gemeinwesen anstreben kann?“ –

Was man tatsächlich braucht, ist etwas, das ein Regisseur wie Richard Eichberg und ein Kritiker wie Willy Haas gemeinsam besaßen: das Gespür fürs Pi-pa-po, und was das ist, ist mit Nutzen und Vergnügen im Beitrag von Michael Wedel nachzulesen. Was in Als die Filme singen lernten fehlt, ist ein Blick zurück, aber die Autoren kennen meinen Großonkel Fritz Kuhlbrodt nicht. Der spielte in den frühen 10er Jahren in Wie sich der Kientop rächt mit, und da gings auch darum, die Freiheit der Kinobesucher gegen den „Professor Moralski“ – so der Zwischentitel – zu sichern, der höheren Orts die Filmarbeiten beschneiden und die Rezeption reglementieren möchte. Onkel Fritzens Film war medienreflexiv, publikumsfreundlich und prophetisch in einem. Ende der 10er Jahre wars dann aus, die Filmkunst wurde von den Volksbildnern instrumentalisiert. Drum animiert mich das CineGraph-Buch zur Forderung: den Werkzeugkasten der Filmgeschichte öffnen und die Faszination der Faszinierten wieder entdecken! Utopie: ja!

„Als die Filmen singen lernten: Innovation und Tradition im Musikfilm 1928-1938“, Redaktion Malte Hagener/Jan Hans, edition text + kritik, München 1999, 227 Seiten, 37 Mark