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Die Stimme ist das Fleisch der Seele

Robert Bresson ist tot. Er hat das Kino vom Zwang des Erzählens befreit. Und die Welt so gefilmt, wie sie ist, nicht wie wir sie haben möchten. Mit der ungeheuren Wucht der Einfachheit. Ein Nachruf ■ Von Hanns Zischler

Seine Filme haben uns getroffen mit der Wucht der Desillusionierung. Ihre Wirkung lässt nicht nach, sie verstärkt sich allenfalls. Entzaubert war das Kino, das plötzlich keine Macht mehr zu haben schien. Oder mehr Macht denn je. Was in der Regel – und dem herrschenden Geschmack zufolge – in der Überwältigung durch Montage mündet, zerfällt bei Bresson in die Ernüchterung immer neu und rabiat gesetzter Augenblicke. Mit der Unnachgiebigkeit eines Empörten hat er den Geschichten das Tarnnetz der Psychologie heruntergerissen. Geschichten von Strauchelnden, Fallenden, Verurteilten, Geschändeten, Überwältigten, Verworfenen. Sein moralischer Rigorismus fand eine Form – forma heißt, auch, Schönheit – und eine ästhetische Kraft, die man sakral nennen muss.

Mit dieser Ästhetik der Kinematographie, die er ganz allein ohne erkennbare Vorbilder von Film zu Film neu erfunden hat, bekämpfte er die profanste aller Welten: das theaterbesessene und schauspielerverhexte Kino. Seine Herkunft aus der Malerei mag ihn daran gehindert haben, Bilder zu „schießen“. Doch es ist nicht das Malerische der Malerei, das er in den Film übersetzen oder für ihn „retten“ wollte, sondern das Gestische in der Fülle seiner Fragmentierung, das eine Erzählung dominiert, sobald sie dem Text entwunden und vom Kinematographen ergriffen wird. Immer wieder ist die Hand, die gibt, hält, greift, andeutet, verweist, schreibt, erwartet und entwendet, die er wie eine verbindende Zäsur ins Bild rückt, die Hand und das Auge, vermittelt durch die Stimme, die seiner (und einer sehr alten) Überzeugung zufolge die Fleisch gewordene Seele ist. Der so begriffenen und belauschten und von ihm „provozierten“ Stimme hat er die großen Geheimnisse entlockt. Und er wurde nicht müde zu betonen, dass diese geradezu mechanische Eucharistie (der Stimme) von Schauspielern nicht zu leisten, ja nicht einmal zu erwarten ist.

Die Kraft der disjunktiven Bilder, in der Gegenstände mit Fragmenten von menschlichen Körpern aufeinander prallen, hat er ganz allein entdeckt. Diese Bilder sind da, gesetzt, mit der Willkür eines Würfelwurfs – und was in ihnen geschieht, scheint von keinem dramaturgischen oder narrativen Willen geleitet – es geht darin zu wie in der Welt. Der gewohnheitsmäßige Realismus (oder Verismus) des Kinos versagt vor seiner Vision. Bresson gestattet den Räumen nicht, in der homogenen Form einer geschlossenen Erzählung aufzugehen. Im Extremfall bedeutet dies, dass wir die Zelle des zum Tode Verurteilten („Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen“, 1956) nie komplett sehen, sondern immer nur in Ausschnitten, die zudem so gewählt sind, dass man glaubt, sie blickten uns an. Damit aber schlägt Bresson von seinem ersten Film an eine Schneise in das fest gefügte Universum des narrationsbesessenen cinéma, er zerbricht die schönen „harmonisch fließenden“ Bilder (und die sakrosankten Kadragen) wie Moses die Gesetzestafeln.

Dinge und Gesten treten in seinen Filmen an uns heran und rücken uns auf den Leib, als wären wir, die Zuschauer, in der Rolle des ungläubigen Thomas, der sagen muss: „Zeige deine Wunde.“ Die Finger Pickpockets, die augenförmige, von sickerndem Blut umfeuchtete Wunde Balthasars, der Staubsauger auf dem roten Teppich von Notre Dame („Der Teufel möglicherweise“, 1976), die Weißwäsche hinter dem Haus des Opfers, der Füllstutzen an der Tankstelle („Das Geld“, 1982) – während bei Hitchcock diese schreckhaften Vergrößerungen wie aus dem Schattenkabinett Hans Christian Andersens entliehen wirken und unsere Fantasie Alarm schlagen lassen, betreibt Bresson damit keinerlei psychologischen suspense. Gesten und Dinge sind da, blind. Und sie sind bedrohlich, weil sie blind sind.

Wenn das Mädchen Mouchette (in dem gleichnamigen Film) von dem Landstreicher Arsène vergewaltigt wird, sehen wir sie erschrecken und fallen und verschwinden unter dem Zugriff seiner Gier. Und wenn sie sich später, am Ende, in ein Leintuch wickelt, um ins Wasser und in den Tod zu rollen, macht sie unter Aufbietung aller Kräfte diesen letzten Akt ihres Lebens zu einem des Widerstands gegen die erlittenen Gräuel ihrer Schändung. Dieser Wunsch, nur noch Körper (und dann nicht mehr) zu sein, wird noch gesteigert in „ Zum Beispiel Balthasar“, von dem geliebten und gefolterten Esel, dessen bildsprengende Präsenz (und Schwärze) uns tief verstört, weil wir an dem Schicksal dieses Tieres der menschlichen Rohheit unabwendbar ansichtig werden. Keine Versöhnung, nirgends.

Er hat uns gelehrt, nicht wegzuschauen. Es sind „nur“ dreizehn Filme, die er im Verlauf eines halben Jahrhunderts gemacht hat. Filme, so schlackenlos und kompakt wie ein Stück Kohle, das unter ungeheurem Druck zu einem Diamanten umgeformt wurde. Wenn man sie (wieder) sieht, scheint es unbegreiflich, woher er die schiere Ausdauer und die immer radikaler werdende ästhetische Vision bezog, diese Filme überhaupt zu realisieren. Grund für Empörung hat es genug gegeben, doch bedeutet das nicht notgedrungen, Kraft und Mittel zu haben, sie darzustellen. 1983, während eines Interviewfilms mit Jean Rouch, trafen wir Robert Bresson in einem Bistro auf der Île-St. Louis, unweit seiner Wohnung. Er erwähnte, dass er immer noch hoffe, das Geld für seinen geplanten Film „La Génèse“ finden zu können. Das Buch sei lange fertig. Die Kosten bezifferte er auf zehn Millionen Dollar. Er hat sie nicht gefunden, und der Film wurde nie gedreht.

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