Gott zieht den Vorhang zu

Etwa 20 Millionen US-Amerikaner hängen einer „Pfingstkirche“ an. Sie glauben, dass die Worte der Bibel die Worte Gottes sind, dass Gott Kranke heilen kann, dass die zweite Ankunft Jesu das letzte Gericht bringen wird. Sie sind überzeugt, dass die Welt in der Schlacht zwischen Gott und dem Antichrist enden wird. Ihre Vorbereitungen auf die Endabrechnung beschreibt Stefan Schaaf

Pensacola, Florida, im Frühjahr 1997. Die ersten Autos fahren schon im Morgengrauen auf den riesigen Parkplatz neben der von dichtem Nadelwald eingerahmten Kirche. Die Menschen steigen aus, packen Campingtische und Faltstühle aus. Es wird noch Stunden dauern, aber das stört sie nicht. Hier, im Pfannenstiel Floridas, so haben sie gehört, geschehen Wunder. Den ganzen Tag über kommen weitere Menschen, Fahrzeuge aus den Nachbarstaaten Alabama und Mississippi, Texas und Georgia, aus Louisiana und sogar aus Colorado. Am späten Nachmittag sind es zwei-, dreitausend, die auf den Beginn des Gottesdienstes warten. Sie haben Baseballmützen auf, und ihre karierten Flanellhemden sind aufgeknöpft. Sie sehen nicht anders aus als Leute, die auf ein Footballspiel oder ein Rockkonzert warten.

Hier, zwischen den endlosen Pinienwäldern des ländlichen, ärmlichen und erzkonservativen Südstaates Alabama und der spöttisch Redneck Riviera getauften floridianischen Küste des Golfs von Mexiko, wo man den billigen Motels und den schäbigen Bierkneipen und Buden mit Anglerbedarf immer noch die Schäden des letzten Hurrikans ansieht, werden Gottesdienste abgehalten, von denen man im ganzen Land gehört hat. Hier, in der „Brownsville Assembly of God“ in Pensacola ist Gott präsent! Hier werden Kranke geheilt und Sünder bekehrt! Hier zeigt die Bibel die ganze Kraft, die dem Worte des Herren innewohnt! – Praise the Lord!

Ein Revival, ein religiöses Erweckungserlebnis, wie man es seit Anfang des Jahrhunderts in den USA nicht mehr erleben konnte, hat hier zwei Jahre zuvor begonnen. Und nun wollen sie alle Pastor Stephen Hill predigen hören. Sie wollen dort sein, wo der Herr erschienen ist. Auch Hill sagt, dass hier „etwas Übernatürliches“ geschehen ist.

19 Uhr: Die Messe beginnt mit einem dumpfen Trommelton, der sich wie ein Herzschlag durch die Menge fortsetzt, dann die Gitarre, danach die Hammondorgel. Drei, vier hymnische Songs lang geht das so. In den Gängen tanzen sie schon. Musik ist das einzige, was in der ersten halben Stunde zu hören ist, und dennoch haben die Kirchgänger schon Tränen in den Augen, blicken entrückt, manche sind der Ekstase nah. Fünf Stunden später strömen und stolpern sie wieder in die kühle Nacht hinaus. Drinnen liegen noch viele auf den Teppichboden hingestreckt. Sie müssen gerüttelt und geweckt werden, manche werden vorsichtig hinaus getragen und ins feuchte Gras gelegt, wo sie nur langsam zu sich kommen. Was ist ihnen widerfahren?

Sie haben einen Prediger den Gottesdienst als „Liebesaffäre“ zwischen den Gläubigen und dem Herrn beschreiben gehört, als legitime emotionale Äußerung, und sie haben erlebt, wie Steven Hill sie vor „dem Gott, der über euch zu Gericht sitzen wird“, gewarnt hat. Sie alle seien in Gefahr, ins falsche, ins unchristliche Leben zurückzurutschen. „Wenn ihr im Fernsehen einer Frau zuschaut, die sich auszieht, so rutscht ihr in die Sünde zurück! Wenn ihr einer Frau, die hier tanzt, lustvolle Blicke zuwerft, so fallt ihr zurück. Doch seid gewahr, ihr Rückfälligen: Der Herr ist hier!“ Ein Revival stehe bevor, ein großes Erwachen werde wie eine Feuerwalze durchs Land gehen, und es werde die Menschen teilen, in die Rückfälligen und die wahren Christen. Und Hill fuhr fort: „Diese Endabrechnung des Herrn wird gewalttätig sein! Sie wird nicht sanft und gütig sein!“

Hill und die übrigen Prediger steigen von der Kanzel herab, um den Segen zu erteilen. Dabei fasst er den Gläubigen mit der Linken um den Hals, legt seinen rechten Daumen auf dessen Stirn und spricht ein Gebet. Häufig fallen die so Gesegneten daraufhin in Ohnmacht. Hinterher werden sie ein Gefühl der Wärme und des Friedens beschreiben, bevor ihre Muskeln sich entspannten und sie sich nicht mehr auf ihren Füßen halten konnten.Vier Jahre lang spielten sich diese Szenen in der Brownsville Assembly of God in Pensacola ab, vier Abende die Woche war die Kirche mit ihren 2.200 Plätzen voll, dazu beteten noch ein paar hundert weitere in einer Kapelle und einem großen Zelt. In den ersten zwei Jahren allein haben zwei Millionen Menschen den Gottesdiensten beigewohnt, tausende Prediger darunter, die den Ruf Hills in ihre Gemeinden zurückgetragen haben. Hill ist überzeugt, dass die Geschichte der Menschen auf Erden ihrem Ende zugeht. „Die Ökonomen sagen es, und die Ökologen auch. Gott zieht den Vorhang zu. Ich weiß nur nicht, ob in zweihundert Jahren oder in zwei.“ Schließlich hat Hill selbst erlebt, wie Gott am Vatertag 1995, als er zum ersten Mal in Pensacola predigte, die Kirche plötzlich mit seiner Macht und seiner Kraft erfüllte. Wie ein gewaltiger Windstoß sei er in sein Haus gefahren. Hunderte hatten diesen ganz besonderen Moment miterlebt. Das Brownsville Revival begann.

Hills Anhänger gehören zu den etwa zwanzig Millionen Anhängern der Pfingstkirchen, pentecostals, die es in den USA gibt. Die Bewegung begann 1901 in Kansas und setzte sich 1906 mit einem sieben Jahre anhaltenden Revival in Los Angeles fort; ihre Mitglieder glauben, dass der Heilige Geist durch die Menschen sprechen kann – so wie er nach der Apostelgeschichte in der Bibel an Pfingsten zu den zwölf Jüngern Jesu gesprochen hat – und sie zum Tanzen bringt, ohne dass sie sich dagegen wehren können. Die Präsenz des Heiligen Geistes äußert sich auch im „in Zungen“, also in fremden Sprachen sprechen: Die Gläubigen beginnen, wie in Trance Unverständliches zu reden. Die meisten pentecostalists glauben, dass die Worte der Bibel die Worte Gottes sind, dass Todkranke von Gott geheilt werden können, aber auch dass der Teufel von ihnen Besitz ergreifen kann und dass die zweite Ankunft Jesu das letzte Gericht bringen wird. Ihre Gottesdienste werden von vielen Fernsehstationen in den USA und in Kanada während der Wochenendnächte übertragen.

Man kann sie als bizarre Show genießen, dabei unterschätzt man aber die immense Bedeutung des fundamentalistischen Christentums im sozialen Kontext der USA. Immerhin 42 Prozent sind überzeugt, dass die Bibel Wort für Wort die direkt von Gott erhaltene Wahrheit enthält – dass also die Schöpfung sich so abgespielt hat, wie im Alten Testament geschildert. 30 Prozent glauben, dass die Welt in einer Schlacht zwischen Gott und dem Antichrist enden wird. Selbst Ronald Reagan sprach vom Armageddon.

Für einen signifikanten Teil der US-amerikanischen Gesellschaft existiert demzufolge ein Glaubens- und Wertesystem, das sich gravierend vom rationalistischen (dem von den Fundamentalisten abfällig als „säkular-humanistischen“ bezeichneten) Diskurs über Politik und Wissenschaft unterscheidet. Das christliche Wertesystem findet sich keinesfalls damit ab, in einer Minderheitsposition zu sein und durch die seit Thomas Jeffersons Tagen Ende des 18. Jahrhunderts errichtete „Mauer der Trennung zwischen Kirche und Staat“ in seiner Ausbreitung beschränkt zu werden. Die Vereinigten Staaten wurden damals zur ersten Nation auf dem Globus, die bewusst und in voller Absicht auf eine Staatsreligion verzichtete. Der erste Verfassungszusatz garantierte viel mehr die freie und ungehinderte Religionsausübung, das Land wurde zum Marktplatz der Glaubensrichtungen mit einem breit aufgefächerten Angebot an Heilslehren.

Der christlichen Rechten missfällt diese strikte Trennung: Das Christentum und das Schulgebet sollen rein in die Klassenzimmer, die Lehre von Charles Darwin raus, auch wenn in einer multikulturellen Einwanderergesellschaft wie in den USA der Glaube an Gott höchst verschiedene Dinge bedeutet. Das Erstarken der christlichen Rechten, die nur zum Teil identisch ist mit den protestantischen Fundamentalisten, ist die unmittelbare Reaktion auf die Jugendkultur, auf Multikulturalismus, die sexuelle Revolution, die Frauen-, die Schwulen- und Lesbenbewegung. Ihr wichtigstes Charakteristikum ist die Forderung an den Staat, ihren eigenen, von christlich-moralischen Grundsätzen bestimmten Wertekatalog als allgemein gültig durchzusetzen – auch wenn dieser Wertekatalog durch den gesellschaftlichen Wandel in den Vereinigten Staaten immer stärker hinterfragt und ausgehöhlt wird. Nur in den Kirchen, in der persönlichen Religiosität gilt dieser Wertekatalog weiter ohne Debatte.

Heute kommen immer noch Gläubige nach Pensacola in die Brownsville Assembly of God, auch wenn intensive Recherchen des Pentacola News Journal einige peinliche Fragen über das finanzielle Gebaren dieser Kirche aufwarfen. Steven Hill predigt nur noch an Freitag- und Samstagabenden. Das Revival geht auf Tour, in andere Städte in den Vereinigten Staaten, in Kanada und nach Lateinamerika. Auch aus Dänemark soll es eine Einladung geben.

Stefan Schaaf, 43, lebt als freier Journalist in Hamburg. Weihnachten zieht er die private der kirchlichen Andacht vor. Unter www.pensacolanewsjournal.com/brownsville sind die preisgekrönten Berichte des „Pensacola News Journal“ über das Brownsville Revival nachzulesen