Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.
: Krummer Weg aus der Knechtschaft

Es ist ein Volk der Vertriebenen, ohne Land, Wasser und Geld, dem Moses mit dem entscheidenden ersten Gebot den politischen Selbstbehauptungswillen einimpfen will. Angesprochen ist ein kläglicher Haufen von Überlebenden nach der Flucht aus Ägypten, der für seinen Führer Moses nur noch von Nutzen sein kann, wenn die eben erlebte Niederlage in einen Treueschwur auf ein neues politisches Gemeinwesen umgewandelt werden kann.

Offenbar ausgestattet mit der Intuition des später in China aufblühenden Taoismus, erkennt Moses in der Not eine Gunst der Stunde. „Umkehr ist die Bewegung des Tao (richtigen Weges). Schwäche ist die Nützlichkeit des Tao“, schreibt Laotse im Tao-Te-King, dem nach der Bibel weitestverbreiteten Buch der Welt.

Ein solches Extrem der Schwäche gewahrt Moses in dem Moment, als er das erste Gebot verkündet. Er setzt also alles auf eine Karte, auf den einen Gott – und gewinnt. Denn mit seinen Worten beginnt der große Aufstieg des Kulturvolkes Israel und seiner bis heute zentralen Idee, der Befreiung aus der Knechtschaft, die Moses als Begründung dem ersten Gebot voranschickt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“

Die Universalität des ersten Gebotes hat sich im 20. Jahrhundert nirgendwo so einprägsam manifestiert wie in dem epischen Fluchtdrama der chinesischen Kommunisten, dem „Langen Marsch“ von 1935 bis 1936. Irgendwann hing das Schicksal der Soldaten Mao Tse-tungs an einer Hängebrücke in den Bergen Sichuans. Der Herr hatte sie wohl dort aufgespannt, so wie er einst das Meer teilte, um den Kindern Israels die Flucht zu ermöglichen. Dass anschließend auch Mao sagte, du sollst keine anderen Götter haben neben der Partei, lässt sich im damaligen Befreiungskampf der Chinesen sowohl aus biblischer als auch aus taoistischer Perspektive leicht nachvollziehen.

Die Problematik des ersten Gebots offenbart sich erst nach Ende des Kampfes. Schon im babylonischen Exil, wo sie immer noch Unterdrückte sind, aber nicht mehr existenzbedroht, interpretieren die Israelis Moses neu: „Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott“ (Jesaja 44,7) richtet sich nicht mehr ausschließlich an die Verfolgten. Jetzt geht es vielmehr um die Unterwerfung der Andersdenkenden: „Die Götzenmacher sind alle nichtig; woran ihr Herz hängt, das ist nichts nütze. Und ihre Zeugen sehen nichts, merken auch nichts, damit sie zuschanden werden“ (Jesaja 44,10).

Das Glück der Israelis war damals, dass sie den Babylonern militärisch trotzdem unterlegen blieben. In China aber hatte Mao bald keine Gegner mehr und stürzte sein Land mit den Ansichten Jesajas in die Schrecken der Kulturrevolution. Georg Blume