Wein-Nacht

Es hätte mein zweites Weihnachten ohne meine Eltern werden sollen. Schon im Vorjahr hatten wir einvernehmlich festgestellt, dass es für alle Beteiligten besser wäre, getrennt zu feiern. Na ja, was heisst schon feiern: In meiner WG hieß das damals ein paar Flaschen Bier holen und wieder die Weihnachtsplatten rauskramen. Dann wurden bis zum Abwinken Klassiker gedudelt: „Nieder mit dem Weihnachtsmann, so 'ne Scheiße hör'n wir uns nicht an“ und natürlich die legendäre Single, auf der Crass den Aasfressern wünschen, sich am Weihnachts-Truthahn zu verschlucken.

Diesjahr kam alles anders. Meinem Vater hatten seine Depressionen wieder einmal die Lust am Leben genommen. Er „feierte“ sehr evangelische Weihnachten in einer Klapsmühle in einem Kaff, das allein schon Grund genug war, das Leben zu hassen. Meine Mutter konnte allein keine zweistimmigen Weihnachtslieder singen und verlangte nach solidarischer Gesellschaft ihrer Kinder. Also Richtung Heimat. Dort erstmal klargestellt, dass mehrstimmige Weihnachtslieder trotzdem ausfallen und einstimmige am besten auch. Den Heiligabend schaukelte die traurige Restfamilie einigermaßen über die Bühne. Zur Christmette musste Muttern alleine gehen.

Derweil klandestine Bescherung: Eine Bad-Religion-Cassette für meine Schwester. Natürlich sofort Probehören: ordentlich laut, vielleicht würde es doch noch ein richtiges Weihnachtsfest? Weit gefehlt: Muttern zu früh zurück, konsterniert über den Krach in der heiligen Nacht. Dann sah sie die Cassettenhülle, auf die ich akribisch das Emblem mit dem durchgestrichenen Kreuz gemalt hatte. Wie unter einem Hieb zuckte sie zusammen. Ihre Züge verloren jegliche Spannung und verschwammen. Tränen schossen aus ihren Augen. Wortlos ging sie ins Bett. Auf einmal war klar: Ich wäre besser nicht gekommen. not