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Das Leben – eine Kleinigkeit

Wer weniger als 1,50 Meter groß ist, stößt täglich an die Grenzen. Verein kleinwüchsiger Menschen gründete sich, um etwas gegen das dauernde Verspotten zu unternehmen  ■ Von Peter Ahrens

Wenn Karin Witt das Alter von Kindern schätzen will, dann überlegt sie: Ist das Kind größer als ich, dann ist es älter als sechs. Sechsjährige Kinder haben ungefähr ihre Größe. Sie weiß: Wenn die Kinder ein paar Jahre älter sind, dann werden sie 1,50 Meter messen oder später 1,80 Meter, vielleicht gar richtige Hünen werden und an die zwei Meter heranwachsen. Sie werden vielleicht Basketball spielen, aber zumindest im Supermarkt an jedes Regal herankommen, das sie erreichen möchten. Karin Witt wird immer so groß bleiben, wie sie ist. Sie ist 55 Jahre alt und kommt gerade einmal auf 125 Zentimeter. Karin Witt ist klein, sehr klein.

Irgendwann war sie das Gehänsel satt, die Ignoranz der Leute und „dass dauernd jemand mit dem Finger auf einen zeigt“. Das konnte sie nicht länger ertragen, und sie suchte sich Menschen, denen es ähnlich ging. 1968 gründete sie den Selbsthilfeverband kleinwüchsiger Menschen, der damals noch Club der Kleinen hieß. Der hat heute allein in Hamburg über 70 Mitglieder, bundesweit sind es gut 400, die sich zusammengetan haben. Im kommenden Jahr im Mai trifft man sich in Hamburg zum Bundeskongress.

Ein Verband allein löst nicht die Probleme. Die Karin Witt und ihre MitstreiterInnen Tag für Tag haben. Denn diese Behinderung läßt sich nicht verstecken. „Von uns geht niemand unbeobachtet durch die Welt“, sagt Witt. Man kann ganz sicher sein, „dass irgendein blöder Spruch kommt“. Zwerg, Liliputaner, abgebrochener Riese – sie mögen es einfach nicht mehr hören. Und immer wieder drehen sich die Leute um, starren, glotzen das Phänomen kleiner Mensch an. „Inzwischen spürt man das schon: Man merkt es den Leuten an, ob sie sich gleich nach mir umdrehen oder nicht.“ Die Reaktion: Dagegenhalten. Die Vereinszeitschrift heißt „Trotzdem“, und das ist Programm. „Ab und zu zeige ich mal gerne den Mittelfinger“, sagt Erika Fydrich. Und: „Wenn man mich so anschaut, dann würde ich den Leuten am liebsten eine reinhauen.“ Sie misst 1,30 Meter, ihr Mann Norbert 1,49 Meter. Zwei kleine Menschen, die sich im Verein kennengelernt haben.

Partnerschaften zwischen groß und klein – sie sind selten. „Es kommt schon vor, aber es geht auch oft wieder auseinander“, sagt Ines Sperling, die erste Vorsitzende des Vereines, und fügt schnell an: „Aber das muss ja nicht am Größenunterschied liegen. Andere Paare trennen sich ja auch.“ Es klingt so, als sei sie selbst nicht ganz überzeugt von dem, was sie sagt. Im Vereinsblatt steht: „Kleinwüchsigen wird von der Umwelt eingeredet, dass Liebe und Sexualität nichts für sie sind. Sie werden zu einer Verzichthaltung erzogen und sind schließlich so eingeschüchtert, dass es ihnen schwerfällt, Freundschaften zu schließen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.“

So bleiben viele Kleinwüchsige unter sich, und das ist nur teilweise auch gewollt. Eigene Sportvereine, in denen man Tischtennis auf niedrigen Tischen spielt und den Volleyball über niedrige Netze pritscht, gar eine eigene Olympiade, die in zwei Jahren in Köln stattfindet. „Es ist ja auch was Schönes, mal richtig mit einem Partner tanzen zu gehen“, sagt Erika Fydrich. Arm in Arm, in Augenhöhe.

Der Alltag: ein dauernder Hürdenlauf. Der Geldautomat hängt zu hoch, die Fahrstuhlknöpfe sind unerreichbar weit weg, wie nur an das höchste Regal im Lebensmittelladen herankommen, der Einkaufswagen lässt sich nicht schieben, die Stufen bei Bussen und Eisenbahn sind für die Großen gemacht. Fast alle fahren daher Auto, Autos mit Pedalverlängerung, einem umgebauten Schalthebel, teilweise mit Handgas. Und das Handy ersetzt die Mühsal, sich nach dem Telefonhörer in der Zelle zu strecken.

Die Probleme hören beim Beruf nicht auf, hier fangen sie erst richtig an. „Der Einstieg ins Arbeitsleben ist ganz schwierig“, sagt Karin Witt. Schreibt man es in die Bewerbung hinein, hat man keine Chance. Verschweigt man es, „kommt beim Vorstellungsgespräch der Schock“. Und hat man es tatsächlich geschafft, den Job zu bekommen, wird es auch nicht leichter. Ines Sperling sitzt in der Krankenhaus-Verwaltung mit ihren 1,30 Meter auf einem Spezialstuhl, der Hocker unterm Schreibtisch ist immer griffbereit. Und Änderungsschneiderin Karin Witt kämpft Tag für Tag mit der Höhe der Bügelbretter.

Kleinwüchsigkeit kann viele Ursachen haben. Hormonelle Störungen, eine mangelhafte Entwicklung des Knochengewebes, Stoffwechselerkrankungen, Unterfunktionen von Schilddrüse oder Niere – die Behinderung tritt in 100 Erscheinungsformen auf. „Unsere Eltern und Geschwister sind alle groß“, sagt Erika Fydrich. Angeblich sollen zwischen 60.000 und 100.000 Menschen in Deutschland betroffen sein. Behandlungen des Kleinwuchses sind nach heutigem medizinischen Stand relativ aussichtslos. Die kleinen Leute müssen eben damit leben.

Was nicht heißt, alles hinzunehmen. Karin Witt ist an ihrem ersten Arbeitstag ausgerastet. Mal wieder typisch: Der Getränkeautomat in der Kantine hängt zu hoch. Sie spricht das an, und die Antwort ist genau so typisch: Wir können Ihnen ja helfen, Frau Witt. Da ist sie einfach explodiert. Sie schreit: „Es soll mir nicht immer geholfen werden. Ich bin ein erwachsener Mensch, und ich will mir selbst helfen können.“ Der Getränkeautomat hing einen Tag später niedriger.

Das sind Momente, in denen Karin Witt denkt: Ich bin klein – na und? Die Momente sind selten.

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