Die letzten zehn Tage
: Alles muss im Präsens sein!

Im Café Burger gibt es Adventsteller, eine Frau weint fast, und Kai Osterndorf bringt Pornohefte mit zur Schule

Weihnachten? – Sowas kommt mir nicht ins Haus! Familienunsinn! Pärchenschleim allerorten! Leute reden weißes Rauschen! „Wer noch einmal behauptet, meine Nordmanntannen wären hässlich, krüpplig, aus Polen und verseucht, erhält sofort eine Schadenersatzklage nicht unter 50.000 DM“, gibt der „Weihnachtsbaumdiscount“ in der B.Z. bekannt. Katrin machte letzte Woche im In-Café Burger Kettenromanschreiben nach Dogma-Regeln. Alles muss im Präsens sein, Perspektivwechsel und abgelatschte Metaphern sind streng verboten. Kirsten sagt am Telefon, sie sei auch gerade im Café Burger. Alles wäre ganz supertoll. Es gäbe auch Adventsteller. Der Weihnachtsbaum im U-Bahnhof Zoo ist sowas von lächerlich! Die Action-Ausstellung „The story of Berlin“ dagegen ist gar nicht so schlecht. Die typisierten Ost- bzw. Westwohnstuben aus den 50er-Jahren sind tausendmal gemütlicher als zeitgenössische! Vor allem die Tapeten! Im Raum „Glauben – und Toleranz“, in dem das Sonics-Soundsystem nicht zu hören ist, gibt es einen Schrank mit auszuziehenden Schubladen, in denen drei Religionen erläutert werden. Im „Sinn des Lebens“ gibt es niedliche Janosch-Bärchen, die sagen, dass sie den Sinn des Lebens auch im Meer oder so nicht gefunden hätten. Kindischer Erwachsenenkitsch! Vom 14. Stock des Ku’dammkarrées gesehen ist Berlin wunderschön. Um 20 Uhr sehen die Gesichter der Leute in der U 15 zwischen Nollendorfplatz und Kottbuser Tor tieftraurig aus. Eine Frau weint fast. Bei der Geburtstagsfeier im Gorgonzola-Club sagte Sandra, sie werde demnächst ein Volontariat beim SFB beginnen. Dafür hatte sie beim „TÜV – Arbeit und Menschen“ in Ruhleben ihren Körper abchecken lassen müssen. Jens, der Künstler, überlegt sich, Puffmutter in einem Schwulenbordell zu werden. Wir sprachen zunächst über Pornografie, dann über das Christentum. Jens sagte, in der DDR seien Schwedenfilme sehr beliebt gewesen, und erzählte von einem Abend Anfang der 90er. Da hätte man ihn in das Hinterzimmer eines zwielichtigen Kreuzberger Ladens gezogen. Sie saßen am runden Tisch. Auf dem Tisch waren nackte Frauen, die sagten, jemand aus dem Publikum dürfe sich eine aussuchen und solle mit ihr dann auf dem Tisch ficken. Allerdings müsse er in drei Minuten abspritzen. Angefeuert von den Fernfahrern machte das jemand. Er sei dann verstört rausgegangen, sagte Jens, und ihm sei das immer eingefallen, wenn jemand vom westlichen Hedonismus sprach. Ich dachte an Kai Osterndorf, der auf dem Schulhof die Pornos, die er seinem Opa geklaut hatte, rumgehen ließ, als ich neun war. So lernte ich früh, dass Erwachsene verrückt sind. Aus der Kirche auszutreten ist eine progressive Tat, bei der man auch noch Geld spart, also so ungefähr das Spießigste, was man sich vorstellen kann! Der Vollmond sei der hellste in diesem Jahrhundert, sagte jemand. Dann wurde es Nacht in der Bärchenguckerei und dann wieder Tag. Jimmy O'Rourke singt immer nur: „Women of the world take over/ cause if you don't/ the world/ will come/ to an end/ and it won't take long.“ Eine tolle Modernfolkhymne!Detlef Kuhlbrodt