Kybernetik für Kids

Das Computerzeitalter zieht im Kinderzimmer ein: Mit „intelligenten“ Legobausteinen wird die Konstruktion kleiner autonomer Maschinen möglich ■ Von Sebastian Handke

Früher war es der Chemiebaukasten, mit dem der heranwachsende Naturwissenschaftler den Krieg gegen seine Eltern eröffnete: Buttersäure und Mehlbomben als frühpubertäre Verzweiflungsakte gegen das Establishment. Aber das war vor der vierten industriellen Revolution.

Im Informationszeitalter haben sich die Taktiken der Kinderzimmerguerilla radikal geändert: Lichtschranken warnen vor herannahenden Erziehungsberechtigten, Sensoren aktivieren Mittelstreckenkatapulte, und niedliche Roboter beteiligen sich an der bedingungslosen Verteidigung des präadoleszenten Privatraums. Die Hilflosigkeit manch ratloser Eltern gegenüber den uneinholbaren Fähigkeiten ihrer Zöglinge an Gameboy und Computer wird nun auch in einer Domäne offenbar, die gegen solcherart digitale Anfeindungen immun zu sein schien: Lego, soeben von der Zeitschrift Fortune zum Spielzeug des Jahrhunderts erhoben, ist im Computerzeitalter angekommen. Obwohl von seiner Beschaffenheit und Klemmfestigkeit her gesehen eher als HighTech-Spielzeug einzustufen, umgibt Lego seit jeher ein bisschen die Aura von Holzspielzeug: ungefährlich, zeitlos und pädagogisch wertvoll. Und damit soll jetzt Schluss sein?

Der Kern von „Lego Mindstorms“ ist der so genannte RCX, ein „intelligenter“ Legobaustein, der über Sensoren seine Umgebung erfassen und Signale verarbeiten kann. Dafür stehen Berührungs- und Lichtsensoren, Temperaturfühler und Videoaugen zur Verfügung. Über eine PC-Schnittstelle kann der geneigte Nachwuchskybernetiker durch entsprechende Programmierung über eine grafische Oberfläche dem denkenden Stein mitteilen, wie er auf die entsprechenden Stimuli reagieren soll. Ein spezifischer Lichtreiz kann so beispielsweise die Selbstaktivierung der Maschine auslösen oder die Drehrichtung der Motoren umkehren. Eine der ersten „Trainingsmissionen“ besteht in der Konstruktion des kleinen „Pathfinders“, eines fahrenden Miniroboters, der in eher tollpatschiger Manier durchs Wohnzimmer rast und bei jedem Aufprall rückwärts zurücksetzt und seine Fahrt in anderer Richtung fortsetzt. Mit dem „Droid Developer Kit“, einer Adaption der bekanntesten Droiden aus Star Wars, der „Mindstorms Digital Camera“ und dem „Exploration Mars Kit“ erschließen sich Jedi-Master und Marsforscher in spe Schritt für Schritt die Robotertechnik. Aber Lego macht nicht nur Ingenieure, sondern auch die Designer und Architekten unter uns glücklich: Dem kalten Funktionalismus der „Fischertechnik Robots“ setzt Masterminds das Lego-Urkonzept der ästhetischen Welterschaffung entgegen. Die Roboter müssen nicht nur funktionieren, sie sollen auch schön sein.

Seit 1984 arbeitet die Lego Gruppe gemeinsam mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) an der Intelligentwerdung des Legosteins. Dass technologischer Fortschritt immer etwas mit Spielzeugen für große Jungs zu tun hat, findet hier sein fröhliches Exempel. Ein prominent besetzter „Expertenbeirat“, zu dem unter anderem der Direktor des MIT, Nicholas Negroponte, gehört, sorgt für wissenschaftliches Flair und fundiert die Kooperation in der uramerikanischen Philosophie des learning through practice. Das erklärte Ziel: Kinder sollen moderne Technik nicht nur verstehen, sondern auch „kreativ beherrschen“ lernen. Prometheus und Frankenstein im Kinderzimmer: der Mensch hat lego das cogito beigebracht – aber die Verfügungsgewalt über die poetische Konstruktion soll in den Händen der Kinder bleiben.

Die Aufzucht kommender Technikergenerationen ist gut organisiert. Die mit Lego verbundene First-Gesellschaft (eine Abkürzung für den vielsagenden Titel „For Inspiration and Recognition of Sience and Technology“) organisiert neben entsprechenden Sommercamps das „First Lego League“ (FFL) – Programm, einen High-Tech-Wettbewerb“ bei dem Schülergruppen durch die geeignete Konstruktion eines FFL-Roboters innerhalb von 6 bis 8 Wochen eine Aufgabe lösen müssen. Das Team soll – ganz dem zeitgenössischen Ideal der Arbeitsorganisation entsprechend – in Designer, Baumeister, Programmierer und Teamleiter strukturiert seinund wird bei Erfolg mit der Aufnahme in die Liga belohnt. Fast sieht es so aus, als stünde Lego hier im Dienste der amerikanischen Vorsprung-durch-Technik-Ideologie: Die Ausbildung einer Wissenschaftselite kann gar nicht früh genug beginnnen. Tatsächlich hat sich in den Vereinigten Staaten eine übergreifende Begeisterung für Lego Masterminds an den Schulen auch schon breit gemacht.

Vor dem Robotic Inventions System gab es bereits eine Reihe von Entwicklungen für Lego Dacta, der Unternehmensabteilung für Lernprodukte. Mit der Schulversion von Mindstorms, dem etwas anspruchsvollerem „Robolab“, gestaltet man dort einen Projektunterricht, in dem die Schüler statt sonst üblicher Frontalberieselung in Arbeitsgruppen Roboter entwerfen, bauen und schließlich gegeneinander antreten lassen – die Lego Group freut sich sehr über die Umsetzung von (nicht mehr ganz so) neuen Pädagogikkonzepten. Auch in Europa gibt es bereits vier Mindstorms-Schulen.

Zur weltumspannenden Vernetzung aller Mastermindskonstrukteure wurde im World Wide Web eine virtuelle Einsatzzentrale installiert (www.legomindstorms.com). Die Mitglieder der Lego-Internationale arbeiten hier mit beeindruckender Betriebsamkeit an ihrem Aufstieg zum „Master“: Vom Barcode-Scanner bis zum persönlichen Assistenten haben sich dort bereits einige hundert neue Modelle angesammelt – eine kleine Armee selbstbewegender Kreaturen, deren Programme dort für den Download zur Verfügung stehen.

Was hier unter der Hand erprobt wird, sind die Grundlagen der Kybernetik, eines für unsere Zeit typischen Denkmodells. Die Kybernetik, die Wissenschaft von Steuerungs- und Regelungsvorgängen, ist eine aus den Notwendigkeiten des Zweiten Weltkrieges entstandene Disziplin, die sich mittlerweile fächerübergreifend zu einem dominierenden Paradigma hat aufschwingen können. Der Zuwachs an Komplexität richtete das Interesse auf Rückkopplungssteuerung und intrinsisch zielgerichtetes Verhalten. Heinz von Foerster, ein Mitbegründer der Kybernetik, fasste deren geistige Revolution so zusammen, dass sie einer Maschine einen Sensor hinzufügte.

Die Lego Technic Reihe hat mit dem Robotic Invention Baukasten diesen evolutionären Schritt nun endlich nachvollzogen. Der an „Desertstorm“ gemahnende Titel „Mindstorms“ erinnert unfreiwillig an diese Verwurzelung – so unfreiwillig, wie Lego-Erfinder Ole Krik Christiansen vor 50 Jahren den Namen seines Spielzeuges aus dem dänischen „LEg GOdt“ („Spiel gut“) abgeleitet haben soll, nicht wissend, dass lego im Lateinischen „Ich setze zusammen“ bedeutet.

Es soll nicht unerwähnt bleiben: Lego Mindstorms funktioniert und macht einen Höllenspaß. Robotics Invention für den Gabentisch? Vorsicht ist geboten. Der Krieg hat gerade erst begonnen.