Für die Lümmelecke

■ Behaglich blubbern: Als Freund analoger Synthiesounds aus den Achtzigern betreibt Thomas Morr das Elektroniklabel Morr Music

Thomas Morr ist Morr Music, ein kleines Label, ansässig in einer leicht heruntergekommenen Mietskaserne im Prenzlauer Berg. Die Tür öffnet ein eher schüchterner Typ mit obligatorischer schwarzer Hornbrille, der, wie sich gleich herausstellen wird, ziemlich guten Kaffee macht und über eine Plattensammlung verfügt, die man mit einigem Recht als repräsentativ bezeichnen kann.

Wenn er von „seiner“ Musik erzählt, ist Thomas Morr nicht zu bremsen. Er spricht mit der Begeisterung eines addicts, der schon auf der Schule, nach seiner Zukunft befragt, antwortet, er wolle beim Tonträgervertrieb Rough Trade arbeiten. Daraus wurde zwar nichts, aber dafür hat Thomas Morr vor einem halben Jahr seine eigene Plattenfirma gegründet. Ursprünglich sollte Morr Music mit einer Post-Rock-Veröffentlichung starten. Das geplante erste Release einer Band namens Hessen platzte jedoch. Zum Glück. Denn dieser Panne verdanken wir ein kleines Berliner Elektroniklabel mit hohem Sympathiewert.

Die Entstehung von Morr Music ergab sich zufällig. Vor allem Kontakte zu Gleichgesinnten ließen ein Netzwerk entstehen, das sich momentan verfestigt zu einer Achse Landsberg/Weinheim (Hausmusik) - Berlin (DIN/Hardwax, Morr Music) - Manchester (City Center Offices von DE:BUG-Redakteur Thaddeus Herrmann), die demnächst durch einen gemeinsamen Remix-Sampler dokumentiert werden soll.

Wenn man sich die Veröffentlichungen auf Morr Music anhört, mag man an Zufälligkeiten kaum glauben. Die bisherigen sechs Releases (zwanzig weitere sind für das kommende Jahr geplant) wirken eher wie die Arbeit an der gleichen Baustelle. Auch das Artwork wird von einem befreundeten Grafiker im Sinne einer Corporate Identity gestaltet. Aber wo man einen konkreten Bauplan vermuten könnte, reagiert eine ganz simple Labelpolitik: Es muss Thomas gefallen. Idiosynkrasie als ästhetisches Konzept.

Die Privatheit des Geschmacks zu verbinden mit dem notwendigen Sich-nach-außen-Wenden eines Labelbetreibers ist dabei nicht immer einfach. Möglich ist das nur in Zusammenarbeit mit „Geistesverwandten“. Das Umfeld, in das Thomas Morr auf diese Weise gefallen ist, rekrutiert sich aus dem erweiterten Freundeskreis. Promotion- und Repertoirearbeit beim Lümmeln in der Sitzecke: die ganze Mühe dieses „eigentlich stinklangweiligen Bürojobs“ nur für diese gemeinsamen „Euphorie-Flashs“, wenn man sich im Augenblick des Erstkontaktes mit der Musik sofort in diese verliebt. Man könnte sagen: Wie die Menschen, so die Musik. Freundlich, aber bestimmt.

Elektronikpop mit hymnischen Melodien und kleinen, irgendwie bekannten Harmoniefloskeln: Hinter jeder Ecke lauert der Wiedereintritt in die Songstruktur. Es morpht wie bei Mouse on Mars, aber mit geringerer Eigengeschwindigkeit und entspannter Ereignisdichte. Skams 1996 erschienenes „Boards of Cananda“ und die Klangtüfteleien von Aphex Twin grüßen freundlich aus der Ferne. Pluckernd, singend und schmatzend kommen die Klänge daher – von einem Ort, an dem sich Melodie und Geräusch Gute Nacht sagen. Einiges wie aus den 80ern, manches ein bisschen LowFi – aber es geht nicht um wissende Zitate oder pseudoalternativen Selbstzweck.

Gemeinsam ist man auf der Suche nach einer ganz bestimmten Temperatur. Und das mit allem gebotenen Ernst. Phonem verwendet auf „Phonetik“ (Morr Music 004) ein kleines Museum der Musikelektronik aus den 80er-Jahren (verschiedene Modelle des Roland-Juno-Synthesizers und einen Atari) in erster Linie, um deren klangtypische Wärme in seine Konstruktionen einzubauen: „In meiner Musik forsche ich nach den Möglichkeiten der Zusammensetzung von aggressiven und kratzigen Sounds mit warmen, melancholischen Melodien und Flächen. Die Kontraste sollen in einem bestimmten Rahmen wieder zueinander finden.“ Zur harmonischen Behaglichkeit gesellt sich stets eine blubbernde Geräuschkulisse, die verhindert, dass man es sich zu bequem macht zwischen den Analogsynthesizern.

Die andernorts schon recht bekannten ISAN stellen auf „Salamander“ (Morr Music 003) ihre Rumpelstilzchen-Elektronik nun auch hierzulande vor. Lali Punas harmloser Stereo-Total-Sound fällt dagegen etwas ab, dafür ist von dem Österreicher Bernhard Fleischmann noch einiges zu erwarten. Seine „Poploops for Breakfast“ und „Sidonie EP“ (Morr Music 001 und 006) stehen ein wenig stellvertretend für Morr Music insgesamt: man weiß nicht, ob man noch tiefer im Sessel versinken oder endgültig abheben soll. Sebastian Handke