Ein verkorkstes Jahr

■ Jahresrückblick, Teil 1: Politik. Düstere Prophezeiungen gingen in Erfüllung. Der von vielen ersehnte politische Wechsel blieb aus. Nur der Regierungsumzug brachte Glanz

Das politische Jahr fing ziemlich verkorkst an. Schuld war die SPD. Aus unerfindlichen Gründen hatten die Genossen beschlossen, ihren Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl durch eine Urwahl aller 20.000 SPD-Mitglieder zu küren. Wochenlang hatten die beiden Matadore Klaus Böger und Walter Momper sich „Rededuelle“ geliefert, die so aufregend waren wie Kräutertee. Wirkliche Spannung kam erst am Wahlabend auf, weil Meinungsforscher wegen der geringen Zahl der Wahlberechtigten keine Prognose über den Wahlausgang liefern konnten.

Als am Abend des 17. Januar im Willy-Brandt-Haus der Sieger verkündet wurde, hatte sich die Basis für den Mann mit dem roten Schal entschieden: Walter Momper. Eine niedergeschlagene Bögerianerin sagte in düsterer Vorahnung: „Jetzt haben wir die Wahl verloren.“ Die Frau hatte recht.

Auch bei den Grünen gab es einen Propheten: Während die meisten glaubten, dass die rot-grüne Bundesregierung kräftigen Rükkenwind für einen politischen Wechsel in Berlin bringen würde, mahnte ein grünes Urgestein: „Wenn Rot-Grün in Bonn nicht gut läuft, dann kann uns das in Berlin um den Wechsel bringen.“ Auch diese düstere Prophezeiung sollte in Erfüllung gehen. Zum Jahreswechsel 98/99 hatten die Meinungsforschungsinstitute noch eine rot-grüne Wechselstimmung in der Stadt ausgemacht. Doch in den folgenden Monaten sank sie stetig, und zwar proportional zum Dilettantismus der rot-grünen Bundesregierung.

Spätestens im Sommer war klar, dass vor der Wahl alles so sein würde wie danach: Nach neun Jahren Große Koalition drohten fünf weitere Jahre. Das bescherte der Stadt einen zähen, langweiligen Wahlkampf, bei dem zum Schluss nur interessierte, ob die SPD die 20-Prozent-Marke unterschreiten würde. Am Abend des 10. Oktober holte die SPD mit 22,4 Prozent ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis, die CDU erzielte mit 40,8 Prozent einen unverdienten Rekord. Schwer gebeutelt wurden die Grünen, die ein Viertel ihrer Wähler verloren und auf 9,9 Prozent rutschten. Die PDS konnte zulegen und bekam 17,7 Prozent.

Was ist von der dritten Neuauflage der Großen Koalition zu erwarten? Mehr vom gleichen Elend, also die Fortsetzung des Ehedramas „Der Rosenkrieg – letzte Folge“? In den beiden ersten Teilen inszenierten sich SPD und CDU als zerstrittene Zwangsgemeinschaft, wobei die SPD stets mehr Lust an der Selbstzerstörung zu verspüren schien als die CDU.

Allen Vorsätzen, die Koalition in der dritten Folge doch noch in ein Erfolgsmodell zu verwandeln, ist so wenig zu trauen wie guten Vorsätzen zum Jahreswechsel.

Einen schalen Geschmack hat schon die Art hinterlassen, wie beide Parteien die Regierungsposten verteilt haben. Die SPD sägte ihre Galionsfigur, Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing, ab. Einen Rückschritt gab es auch bei Besetzung der Senats- und Staatssekretärs-Posten: Die Verlierer des Jahres waren Frauen und Ostdeutsche. Unter sieben SenatorInnen sind nur zwei Frauen: Christa Thoben (CDU) und Gabriele Schöttler (SPD). Noch schlechter fällt die Bilanz in der Riege der StaatssekretärInnen aus: Nur 3 von 17 Posten gingen an Frauen, der Rest wurde mit Westmännern besetzt. Drei Ämter sind noch vakant.

Das Prinzip, dass verdiente alte Männer mit einem repräsentativen Posten abgefunden werden, setzte sich auch bei der Wahl des Parlamentspräsidenten und seiner beiden Stellvertreter fort. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren ist keine Frau an der Spitze der Volksvertretung.

Für ein wenig Glanz sorgte allein der Umzug der Bundesregierung. Er brachte im Spätsommer ein wenig Aufbruchstimmung in die Stadt, eine unbestimmte Vorfreude auf Veränderung, die einem die lokale Politik vorenthielt. Doch wirklich verändert hat sich nichts. Die glanzvollen Empfänge und Staatsbesuche bleiben Fernsehereignisse, die den Alltag nicht berühren. Sinnlich erlebbare Folge des Regierungsumzugs sind einzig die Staus im Regierungsviertel.

Durchgesetzt hat sich auch die irritierende Wortschöpfung „Berliner Regierung“. Der Berliner denkt dabei unwillkürlich an Eberhard Diepgen, doch gemeint ist nicht der Senat, sondern die Bundesregierung. Bislang blieb dies das einzige Zeichen politischer Dominanz. Die Bundes- und die Stadtregierung sowie die dazugehörigen Parlamente bilden zwei Parallelwelten, zwei auf sich selbst bezogene Systeme mit wenigen Berührungspunkten.

Vom weiteren Erfolg oder Misserfolg der rot-grünen Bundesregierung hängen indes auch die politischen Perspektiven Berlins ab. Bei einem Scheitern des rot-grünen Projekts auf Bundesebene würde sich die Frage nach dem Sinn einer rot-grünen Landesregierung verschärft stellen. Wenn die Erwartungen, die in eine Rot-Grüne Reformregierung gesetzt wurden, endgültig enttäuscht würden, brächte dies Aufwind für andere politische Konstellationen.

Ein politischer Wechsel für Berlin ist spätestens 2004 fällig. Bei der nächsten Abgeordnetenhauswahl wird nahezu jede Konstellation denkbar sein – schwarz-grün ebenso wie rot-rot-grün.

Dorothee Winden

Teil 2 morgen: Kultur