„Höchste Alarmstufe in der Silvesternacht“

Manfred Kindler vom „Krisenstab 2000“ der Unikliniken warnt davor, die Computerprobleme zur Jahrtausendwende zu unterschätzen

Das Jahr-2000-Computer-Problem trifft die Berliner Krankenhäuser besonders hart: Sie müssen in der Silvesternacht die Gesundheitsversorgung einer Millionenstadt im Feiertaumel sicherstellen und sind dafür auf hochsensible Geräte und eine funktionierende Strom-, Wasser- und Telefoninfrastruktur angewiesen.

Kommt es tatsächtlich zu Computerfehlern, ist deshalb ein Notfall nicht auszuschließen, warnt Manfred Kindler (47). Der medizintechnische Sachverständige leitet die „Aktion Krisenstab 2000“, einen Zusammenschluß führender deutscher Unikliniken, darunter die Berliner Charité.

Seit Juni fungiert die Initiative von Berlin aus als Schalt- und Informationsstelle auch für Kliniken in Berlin und Brandenburg im Kampf gegen den „Millennium-Bug“ und seine Folgen.

taz: Herr Kindler, mit welchen Gefühl gehen Sie in die Silversternacht?

Manfred Kindler: Ich habe etwas zittrige Knie. Wenn ich die mir vorliegenden Insiderinformationen aus Krankenhäusern, Versorgungsunternehmen und Geräteherstellerfirmen ernst nehme, bin ich beunruhigt. Denn die lauten: „Wir wissen nicht genau, was passiert“ und „Katastrophale Zustände lassen sich nicht gänzlich ausschließen.“

Sind die Berliner Krankenhäuser ausreichend auf den Datumswechsel vorbereitet?

Ich befürchte, dass viele Krankenhäuser, darunter auch Berliner Kliniken, böse Überraschungen erleben werden, obwohl sie glauben, sich gut vorbereitet zu haben. Unsere Sachverständigen stellen immer wieder fest, dass bei der Umstellung elektronischer Anlagen und in der Notfallplanung wichtige Elemente übersehen worden sind.

Wo liegen die schwersten Probleme?

Einige Hersteller alarmieren gerade die Krankenhäuser, weil sie feststellen, dass ihre medizinischen Geräte doch nicht – wie vorher versichert – Jahr-2000-fest sind. Die zu ersetzen, dafür ist es jetzt zu spät. Aber nicht alle Jahr-2000-Probleme sind hausgemacht: Wir rechnen in Deutschland mit Störungen in den Kläranlagen. Das Trinkwasser müsste dann stark chloriert werden, ein Riesenproblem für Krankenhäuser, die auf hochwertiges Trinkwasser angewiesen sind. Wir rechnen mit Störungen in der Stromversorgung. Nicht informiertes Personal könnte in starke Hektik geraten und Fehlreaktionen zeigen. Selbst mit der Zuverlässigkeit von Notstromgeneratoren gibt es beunruhigende Erfahrungen: Im Ernstfall können sie versagen oder sich wegen Überhitzung abschalten.

Haben die Berliner Krankenhäuser genug getan, um sich und ihre Patienten vor drohenden Ausfällen zu schützen?

Die großen Kliniken haben viel Geld in die Vorbereitung investiert, sehr viele Geräte ersetzt, zahlreiche Tests durchgeführt, ihre Lager aufgefüllt und Notfalltrainings durchgeführt. Leider kommen solche Notfallplanungen reichlich spät: Die meisten Krankenhäuser sind mit ihren Jahr-2000-Vorbereitungen ein Jahr im Verzug. Ihnen fehlt oft nicht nur das nötige Verständnis für das Ausmaß der Problematik, sondern auch das Geld. Im Vergleich zu den Milliarden, die die Industrie aufbringen musste, um das Jahr-2000-Problem in den Griff zu bekommen, ist der Aufwand im Krankenhaus kaum messbar.

Berlin ist Anlaufpunkt für zahlreiche Millenniums-Feiern. Wie steht die Hauptstadt im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten da?

In dieser Nacht herrscht höchste Alarmstufe. Aber die großen Krankenhäuser in und um Berlin haben sich sehr intensiv darauf vorbereitet. Deshalb hat Berlin bundesweit auch eine Spitzenstellung, was die Anstrengungen gegen das Jahr-2000-Problem angeht: Es wäre weltweit blamabel, wenn ausgerechnet in Berlin das Licht ausginge.

Wie lange wird der Computer-Bug die Berliner Krankenhäuser in Atem halten?

Viele Krankenhäuser richten sich nur auf Störungen um Mitternacht ein. Das ist aber genau falsch. Es kann durchaus sein, dass erst viele Stunden später die Systeme zusammenbrechen, weil immer mehr Sicherungen reißen.

Wir müssen damit rechnen, dass die Störungen teilweise Tage, vielleicht Monate anhalten, dass Engpässe bei bestimmten Medikamenten oder Verbrauchsmaterialien auftreten. Vorausschauende Krankenhäuser haben deshalb Vorräte angelegt. So beispielsweise etwa im Hof einer Berliner Klinik seit Tagen ein Tanklastzug mit 30.000 Litern Mineralwasser für den Notfall. Nur, wenn das alle Krankenhäuser täten, gäbe es bundesweit nicht genügend Mineralwasser.

Hat sich der Computerfehler in den Berliner Krankenhäusern bereits bemerkbar gemacht?

Bisher gab es noch keine größeren Störungen. Aber in Krankenhäusern sind Ausfälle Tagesgeschäft. Das Neue beim Jahr-2000-Problem ist ja, dass in einem sehr kurzen Zeitraum sehr viel passieren kann, und keiner so genau weiß, was. Gleichzeitig werden die Kundendienste der Zulieferer selbst mit Störungen zu kämpfen haben. Wir haben also von Buchhaltungsprogrammen bis hin zu Narkosegeräten einen Notfall, der in dieser Form noch nie dagewesen ist.

Wie werden Sie selbst die Silvesternacht verbringen?

Ich werde in der Leitstelle sitzen und über ein Frühwarnsystem die Krankenhäuser über die Entwicklungen in Australien, Neuseeland oder Japan auf dem Laufenden halten. So können die Kliniken möglicherweise noch rechtzeitig auf Krisensituationen reagieren.

Für den Notfall habe ich vor der Tür ein Wohnmobil mit jahrtausendfestem Dieselmotor und genügend Gas und Wasser geparkt. Damit kann ich eine Woche lang völlig autark überleben. Aber ich schätze, dass ich das alles nicht brauchen werde.

Interview: Markus Wierz