Angriff von allen Seiten

Seit dem Wochenende liegt Grosny unter flächendeckendem Dauerbeschuss. Im Häuserkampfhalten statt Russen moskautreue Tschetschenen den Kopf hin  ■ Von Klaus-Helge Donath

Moskau (taz) – „Nichts Schreckliches passiert in Grosny. Es gehört zur Operation, die Stadt von den Banditen zu befreien“, meinte General Wiktor Kasanzew zum Auftakt der angeblich „vorletzten Etappe“ des Kaukasuskriegs. Seit Sonnabend greifen russische Einheiten die Ruinenlandschaft Grosnys aus vier Richtungen an. Der Kommandeur der russischen Streitkräfte in Tschetschenien Kasanzew wird von einem brennenden Wunsch getrieben: Noch in dieser Woche soll Russlands Trikolore über den Trümmern von Grosny wehen. Wett gemacht wäre damit die Schmach der verlorenen Schlacht in der Silvesternacht 1994/95, die tausenden russischen Soldaten das Leben gekostet hatte. Im Unterschied zum ersten Tschetschenienkrieg geht das russische Militär diesmal etwas vorsichtiger vor. Im Feld wie an der Propagandafront.

Um die eigenen Verluste niedrig zu halten, schickte die russische Generalität tschetschenische Milizen in den Häuserkampf um Grosny. Etwa 500 tschetschenische Kämpfer, unter Führung des moskautreuen Kommandeurs Beslan Gantemirow, lancierten am Wochenende Vorstöße ins Stadtzentrum. Angeblich gelang es den Milizen, einen strategischen Platz auf dem Weg ins Zentrum in ihre Gewalt zu bringen.

Die tschetschenische Unterstützung birgt für die russischen Militärs mehrere Vorteile. Die Tschetschenen kennen das Terrain besser, Verluste unter den Vortrupps, die hoch sein dürften, tauchen nicht in der offiziellen Statistik auf. Die Armee rückt erst nach, wenn die Widerstandsnester der Rebellen ausgenommen oder zumindest lokalisiert sind.

Warlord Beslan Gantemirow ist eine zwielichtige Gestalt, die schon im ersten Kaukasuskrieg auf der Seite des Kremls gekämpft hat. Bevor Gantemirow als Russlands Emissär in den Kaukasus geschickt wurde, saß er im Moskauer Lefortowo-Gefängnis. Unterschlagungen großen Stils wurden dem Ex-Bürgermeister von Grosny zur Last gelegt. 1995 errichtete Moskau im besetzten Grosny eine Marionnettenregierung. Gantemirow erhielt den Posten des Bürgermeisters, bevor er mit Geldern aus der Staatskasse verschwand.

Im November amnestierte Präsident Boris Jelzin den Delinquenten. Beslan Gantemirow wurde zum stellvertretenden Regierungschef des Moskauer Marionettenregimes ernannt. Die Wahl des Kreml verdeutlicht, wie dünn die Personaldecke der moskauhörigen Tschetschenen ist. Zur Glaubwürdigkeit des Kremls, der in Tschetschenien offiziell „Maßnahmen gegen Terroristen und Kriminelle“ durchführt, trägt die Ernennung des verrufenen Räuberbarons nicht unbedingt bei. Gantemirow soll auch in Waffen- und Rauschgiftgeschäfte verwickelt sein. Sollte er über die moralische Kraft und Integrität verfügen, im Nachkriegstschetschenien eine gesetzestreue Verwaltung aufzubauen?

Überdies scheinen auch die russischen Militärs Zweifel an der Zuverlässigkeit der Gantemirow unterstellten Milizen zu hegen. Dafür, ob sie sich im Ernstfall für russische Interessen verheizen lassen, steht der Beweis noch aus.

Offensichtlich beabsichtigt die Generalität nicht, Grosny flächendeckend einzunehmen. Darauf ist wohl zurückzuführen, dass die Militärs wie auch Premierminister Wladimir Putin das Vorhaben, „die Stadt zu stürmen“, grundsätzlich verneinen. Demnach scheint die Heeresleitung zunächst nur strategische Punkte besetzen zu wollen, um die Bewegungsfreiheit der Rebellen innerhalb Grosnys einzuschränken. Wie viele muslimische Freischärler sich in der Festung noch aufhalten, ist unklar. Tschetschenische Quellen nannten etwa 5.000, die mit Lebensmitteln und Munition für drei Monate ausgerüstet seien. Die eigentliche Schlacht um Grosny stünde dann noch bevor. Gelingt es den Russen, den Rebellen die Rückzugswege abzuschneiden, werden die zum Untergang verdammten Todesschwadrone kein Pardon mehr kennen.