Die letzten zehn Tage
: In der Bahn

Die kleine Stadt liegt hinter dir, die besten Jahre deines Lebens, sie warten auf dich

Matthias ist Automechaniker und war seines Lebens müde. Deshalb hat er sich vom Balkon gestürzt. Außer einigen Knochenbrüchen war nichts dabei rausgekommen. Im Krankenhaus empfahl man ihm, einen Psychiater aufzusuchen: „Wenn Ihr Bein kaputt ist, gehen Sie zum Orthopäden; und wenn Ihre Seele krank ist, gehen Sie eben zum Seelendoktor.“ Den Eltern war die manische Depression ihres Sohnes äußerst peinlich. Der hätte eben fliegen lernen wollen, sagte lachend der Vater, und die Mutter redete im Turnverein verächtlich über psychisch Kranke, damit ja keiner auf die Idee käme, dass auch ihr Sohn sowas hätte.

Oder: Eine ehemalige Arbeitskollegin rief verzweifelt meine Mutter an. Sie sei völlig am Ende. Ihre Tochter, die eine Weile von einer Lebenskrise in die nächste zu stolpern pflegte, hätte die ganze Küche verwüstet. Ob meine Mutter schnell vorbeikommen könne. Meine Mutter, die grade dabei war, nach Lübeck zu fahren, sagte, sie könne nicht. Ihre Arbeitskollegin sagte, nun gut. Sie hätte ja noch genug Tabletten da. Als meine Mutter dann doch hinfuhr, hatte die Tochter nur ihr Geschirr auf dem Küchentisch gelassen, und die Selbstmordandroherin guckte peinlich berührt aus der Wäsche.

Wilhelm war früher auf die Doofschule gegangen. Wenn Wilhelm sich als Kind kloppte, gab’s oft ein Loch im Kopf und kleine Blutlachen auf dem Sand im Sommer. Er lebte bei seinen Adoptiveltern, weil die Eltern schon weg waren. Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört. Irgendwann, als er grad 18 war, hatten ihn seine Adoptiveltern rausgeschmissen. Ein einziges Mal war er nicht zur Zeit nach Hause gekommen. Später lernte Wilhelm Maurer und arbeitete ein paar Jahre auf Rummelplätzen. Nie ließ er sich entmutigen. Irgendwo im Harz hätte er dann seine Zimmerwirtin geheiratet, die zwanzig Jahre älter war als er und furchtbar eifersüchtig. Nach ein paar Jahren sei das in die Brüche gegangen. Nun hat er eine Jüngere geheiratet und arbeitet als „Abbruchunternehmer“ in Schwerin. Wilhelm ist mir sympathischer als Wohlrabe oder Scholz & Friends.

Regina lebt im furchtbaren Streit mit ihrer Oma, weil sie sich als fünfjähriges Mädchen mal nicht für ein Geschenk bedankt hatte. Seit fünfzehn Jahren hätte die Oma mit ihrem Enkelkind kein Wort mehr gewechselt. Diese und jener wurde wegen Nichtigkeiten enterbt und der brachte seinen Vater in der alten Scheune auf dem Dorf aufs Grausamste um. So sind hier die Leute in der Provinz.

Schleswig-Holstein ist schön im Schnee, der am Ersten Weihnachtstag ausgiebigst fiel. Während der Weihnachtstage aß ich, so viel ich konnte. Am Abend hatten wir uns den Heiligen Abend auf Video angeschaut. Auf der Ereigniskarte des Ökospiels stand: „Halte deine Nase zu und sage: ,Meine Batterien kommen nicht in den Müll!‘ “ Im ICE von Hamburg nach Leipzig, der in Charlottenburg „außerplanmäßig“ und eine halbe Stunde zu spät, wie gewöhnlich, endete, las ein Mitreisender eine Illustrierte: „Geliebter der Ehefrau mit Stahlschneider Hoden abgeschnitten!“ Eine junge Frau rief laut und an niemand Bestimmten gewandt: „Was soll ich denn in Berlin? Kotzt mich sowas von an!“ und „Wie war denn euer Weihnachten? Warum sagt ihr denn nix?“ Später sprach sie leise mit sich selbst, und ich kiffte kurz in der Toilette. Leicht behascht Bahnfahren ist der angenehmste Rausch, den es gibt. Man denkt, 2000 wird bestimmt supertoll werden! Jetzt beginnen die besten Jahre deines Lebens! Und wenn man angekommen ist, ist man wieder nüchtern. Detlef Kuhlbrodt