■ Die meisten Deutschen bleiben zum Jahrtausendfest zu Hause. Auch dem Autor Joseph von Westphalen geht „das Jahr 2000 am Arsch vorbei“. Darüber hat er ein Buch geschrieben und wurde zum Antimillenniumsheld Nummer eins. Erfahrungsbericht eines Spielverderbers: Sollen die Schweine doch ohne mich feiern
Wann hat man schon mal Gelegenheit, zum Berufenen zu werden, zum Experten? Bebt die Erde, haben die Geologen Konjunktur, die in „Brennpunkt“-Sendungen erklären dürfen, wie es zur Katastrophe kommen konnte. Nach Beendigung von Geiseldramen schlägt die Stunde der Psychologen, die auf Geiseltrauma-Nachbetreuung spezialisiert sind. Schriftsteller können der Berufung nachhelfen. Kommt man etwa pünktlich zum Goethe-Jahr mit einem Goethe-Buch heraus, wird man in Goethe-Talkshows eingeladen. – Ich habe das Buch zum Jahrtausendwechseljahr geschrieben. Das Buch gegen das Millenniumstamtam.
Als ich mich Mitte Juli an den Schreibtisch setzte, um, wie mit dem Verlag abgemacht, ruck, zuck die Schmähschrift „Warum mir der Jahrtausendwechsel am Arsch vorbeigeht“ zu Papier zu bringen, fühlte ich allerdings nicht die Vorfreude des künftigen Experten in mir. Nicht mehr als acht oder auch zwölf Schreibmaschinenseiten wollte ich zu Papier bringen. Die sollten dann zu einer lesefreundlichen Broschüre von 24 Seiten aufgeblasen werden und kurz vor Silvester auf den Markt kommen – ein Mitbringsel für Leute, die den dummen Jahreswechsel bei Freunden verbringen. Man würde das schmuddelige Billigbuch in einer Viertelstunde lesen und dann wegwerfen, denn am 1. Januar 2000 hat es seine Gültigkeit verloren.
So war es geplant. Doch es gab ein Problem mit der Logik: Wem etwas am Arsch vorbeigeht, der zuckt mit den Schultern, macht eine Grimasse, eine abwertende obszöne Geste, basta. Der schreibt jedenfalls keine Polemik – auch keine kleine. So musste ich eine Schriftstellerfigur erfinden: Dem guten Mann geht es wie mir. Widerstrebend unterschreibt er einen Vertrag zu einem Buch über den Millenniumsschwachsinn. Dann noch einen. Und noch einen. Weil dabei Geld fließt, sind es schließlich 37 Millenniumsbuchprojekte, die er verabredet hat.
Beim Entwickeln dieser Projekte konnte ich die hysterischen Umtriebe schildern, die dem Millenniumsspektakel vorausgehen. Manche Kuriositäten sind erfunden, die besten habe ich von der Wirklichkeit übernommen, wie etwa das Angebot eines Event-Agenten im Januar 1998, beim Millenniumssilvester in 23 Monaten – „In der Hauptstadt natürlich!“ – an einem Kostümball teilzunehmen. 2.000 Geladene, nur die Reichsten und Schönsten, klar, und jeder darf sich als eine historische Gestalt der letzten 2.000 Jahre verkleiden. 15.000 Mark die Eintrittskarte. Event-Agenten sind fantasievoller als Poeten.
Radiomoderatoren lieben das kräftige „Arsch“-Sagen
Damit der Roman seine Haltbarkeit nicht am 1. Januar verliert, bekam er den Titel „Warum mir das Jahr 2000 am Arsch vorbeigeht oder Das Zeitalter der Eidechse“. So sollte es das ganze nächste Jahr haltbar sein. Ab 2001 wird es nur noch „Das Zeitalter der Eidechse“ heißen, denn die Liebesgeschichte mit einer Frau, die das rabiate Paarungsverhalten einer Eidechse an den Tag legt, ist ziemlich zeitlos.
Meine Kurzkarriere als Event-Kritiker begann im Oktober. In wenigen Wochen gab ich fast drei Dutzend Radiointerviews. Immer hatte ich es mit wohlwollenden Moderatoren zu tun. Sie verziehen mir, dass ich mit meinem Buch von dem Spektakel profitierte, das ich verhöhnte. Ich hatte nie Zeit, das richtigzustellen. Dabei ist es doch ein großer Unterschied, ob ich mein Geld verdiene, indem ich eine Massenhysterie unterstütze oder ob ich gegen sie anschreibe.
Die Radiomoderatoren genossen es hörbar, das Wort „Arsch“ in den Äther zu sprechen und ihre eigene Millenniumstamtam-Verachtung in dieses Wort hineinzulegen. Ich glaube, das war der Hauptgrund für all diese Buchvorstellungen: Das „Arsch“-sagen-Dürfen. Zu Anfang und in der Mitte und am Ende der vier Minuten des Kurzbeitrags nannten sie saftig den langen Titel. Zum Beantworten der Fragen blieb kaum Zeit. Was ich allerdings irgendwie auch als gerechte Strafe dafür empfinde, dass ich so oberschlau gewesen war, ein Buch zum richtigen Zeitpunkt zu machen. Das hat man davon. Man bekommt mit dem Interesse der Medien auch ihre rasende Flüchtigkeit ab.
Dabei hatte ich doch ab und zu mal was Vernünftiges sagen wollen. Zum Weltuntergang zum Beispiel. Fragen nach dem Weltuntergang kamen noch im Oktober, waren aber schon im November out. Offenbar erwarteten die Radioleute nicht mehr, dass sich noch irgendein Hörer dafür interessierte. Eigentlich tröstlich, dass den Leuten ihre Ängste offenbar ganz von selbst zu blöd wurden. Aber wen oder was soll man noch verspotten, wenn alle immer vernünftiger werden?
Natürlich wollten die Rundfunkfrager dann auch immer wissen, wie einer feiert, der ein ganzes Buch gegen das Feiern geschrieben hat, und in den wenigen Interviewsekunden kam ich nicht mehr dazu zu sagen: Wenn ich allein lebte, könnte ich mir das Aussortieren alter Zeitungen als Silvesterbeschäftigung vorstellen. Wenn ich ein paar Millionen Mark und eine eidechsenscharfe Geliebte hätte wie mein Romanheld, fände ich es vertretbar, auf einer Yacht im Pazifik Silvester vor lauter Liebe zu vergessen. Zu diesen beiden Varianten fehlen mir leider Geld und Größe. Stattdessen gehe ich mit meinem Eheweib brav bürgerlich zu Freunden und bringe Wein mit, damit ich keinen Sekt oder Schampus trinken muss.
Die blöde Rolle des weltfremden Spielverderbers
Ein trauriges Zeugnis meiner falschen Berufenheit als Millenniumsspaßverderber will ich nicht verschweigen: Kurz vor Weihnachten war ich Gast in einer Fernsehtalkshow. Der Moderator baute mir Brücken. Aber es half nichts. Als Autor eines Romans hat man den Wahn fiktionalisiert und damit erledigt. Sitzt man nun mit Leuten zusammen, die wirkliche Meinungen haben, ist die Kommunikation gestört. Man ist nicht Experte für Fragen der Wirklichkeit. Ich kam mir vor wie ein weltfremder Spielverderber. Mein Gott ja, was regt man sich auf, sagt man sich angesichts von so viel Mitmacherei.
Da sitzt der Moderator Cherno Jobatey. Er wird in der Silvesternacht eine seit dem Frühjahr ausverkaufte Fete präsentieren, für die er ständig Reklame macht. Soll ich nun sagen, dass ich jeden, der 1.000 Mark für den Schwachsinn ausgibt, für einen Schwachkopf halte? Das klänge so missgünstig. Als einer, der seit Jahren vom Bejahen und Fördern von Quoten und Moden lebt, kann Master Cherno gar nicht verstehen, wieso ich so ein Buch schreiben konnte. Er lebt davon, die Event-Geilheit zu bedienen und nicht darüber nachzudenken, wie ich davon lebe, mir ein paar Gedanken darüber zu machen, sie in meinen Büchern als Idiotismus vorzuführen.
Er wird ja mit Silvester nicht enden, das große Tamtam. Die Aufregung wird sich neue Themen suchen. Ob Millennium oder Michael Jackson: Die Event-Besessenheit ist die Konstante. Es muss nicht mal eine Sonnenfinsternis sein, die das Volk der Mitmacher verzückt. Es reicht schon eine gute Picasso-Ausstellung mit einer langen Menschenschlange vor dem Eingang: Sieben Tage Wartezeit und alle machen mit, alle wollen etwas davon haben, bis hin zu den Schlafsackherstellern und Klappstuhlvermietern.
Zu Beginn des neuen Jahres wird es noch ein paar Interviewtermine geben. Man wird mir Recht geben: „Stimmt. War wirklich nichts Besonderes.“ Ich werde bescheiden abwinken: Ich bitte Sie, wusste doch jeder Idiot, dass der Rummel sich im Nu in Nichts auflösen würde. Zu interessanteren Beobachtungen wird wieder keine Zeit sein. Zum Beispiel zu der Frage über die mangelnde Lernfähigkeit der Event-Gesellschaft. Die Antwort ist ja ganz leicht: Wer eine Stange Geld für Blödsinn ausgegeben hat, will die Nichtigkeit des Gegenwerts gar nicht mehr erkennen. Daher wird schlechte Kunst nie untergehen, so lange sie teuer ist, und daher werden die Narren auch noch eine ganze Weile von ihren stinklangweiligen Concorde-Silvesterflügen schwärmen. Und vom größten Tag des ausgehenden Jahrtausends. Bei dem sie ganz groß dabei gewesen sind. Joseph von Westphalen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen