Die letzten zehn Tage
: Der neue Fernseher

Am liebsten würde man zurzeit für eine Stunde die Augen von Gerd Ruge mieten

Die Teletubbies machten „winke, winke“. Dann ging ich in Gedanken über den großen Friedhof in der Bergmannstraße und dann zu „Conrad“, um einen Überbrückungsstecker zu kaufen, mit dem man das Modem in den Telefonanschluss stecken kann. Der Stecker kostete 22,50 Mark. Kurz überlegte ich, ob ich ihn klauen sollte, legte dann doch feige den Stecker zurück und ging Obstplunder kaufen.

Der türkische Bäcker fragte, wie Weihnachten gewesen sei. Wir redeten über Kriege und Naturkatastrophen. Seiner Ansicht nach sollten sich die Erwachsenen ein Beispiel an den Kindern nehmen. Denen sei es egal, ob jemand Deutscher oder Ausländer sei. Die spielen mit jedem. Er ist dafür, alle Atomwaffen zu verschrotten und die Atomkraftwerke meinetwegen auch. Für den Anstieg von Naturkatastrophen sind seiner Ansicht nach die Atomtests und die damit einhergehenden Kontinentalplattenverschiebungen verantwortlich.

Besonders regte er sich darüber auf, dass das Finanzamt ihm neulich eine Rechnung von 12 Mark geschickt hatte, weil er vergessen hatte, die 43 Pfennig, die das Finanzamt zuvor angemahnt hatte, zu bezahlen. In dem Mahnbescheid sei ihm mit Haft gedroht worden. Und solche Leute wie Kohl kommen sicher nicht ins Gefängnis.

Dann kam ein schwarzer Kunde im gelben Regenmantel. Als ich mir wünschte, dass Kohl zusammen mit Krenz in eine Zelle kommt, lachte der Schwarze sehr nett. Dann ging ich zur Post, die ersten deutschen Briefmarken mit Hologramm kaufen. Bei Hologramm muss ich immer an Holocaust denken, und wenn ich an Holocaust denke, fällt mir immer das Straßenschild ein, das ich in Görlitz gesehen hatte: „Achtung, Gas weg! Altenheim.“ Auf dem dazugehörigen Piktogramm waren drei Alte angedeutet, von denen einer einen, allerdings den linken, Arm hochreckte. Am liebsten würde ich den Jahreswechsel mit Senioren verbringen und Zitrusfrüchte dabei essen.

Auf dem Schreibtisch liegt eine Streichholzschachtel vom Kieler agimos-Verlag. „Nie wieder Bücherverbrennung!“, steht auf der Schachtel. Die Streichhölzer haben keine Zündköpfe. Auf MTV gab es das Live-Concert einer leicht angepunkten russischen Band auf dem Roten Platz in Moskau. Als sie „Suck my kiss“ sangen, sah man ganz kurz in der Menge Uniformierte mit Schlagstöcken auf Leute einschlagen. Sofort schwenkte die Kamera woanders hin, und der Vorfall wurde nicht weiter thematisiert.

Später fuhren wir zu Karstadt, einen Fernseher kaufen. Das Parkhaus von Karstadt am Hermannplatz ist zur Hälfte aus Holz und eine provisorische Rummelplatzachterbahn. Das Erdgeschoss sieht mittlerweile aus wie Rudis Reste Rampe oder Conny’s Container. Viele Kabel hängen aus der geöffneten Bauchdecke im Erdgeschoss runter. In der dritten Etage spielten zwei vielleicht elfjährige Jungs in Anoraks ein Fußballvideospiel. In der Nachspielzeit stand es zwischen Hertha und Bayern München 1:4. Jancker schoss auch ein Tor. Ich kaufte mir einen ganz großen Grundig-Fernseher für 699 Mark, obgleich für Markengeräte zu sein so ähnlich ist, wie für Bayern München zu sein.

Die Sendungen im neuen Fernseher waren super und Gerd Ruge so herzerwärmend wie immer zwischen den Jahren. Es wäre toll, wenn man Gerd Ruge für eine Stunde mieten könnte. Fremde Augen sehen bekanntlich mehr als die eigenen, die sich selber nicht wirklich betrachten können.

Detlef Kuhlbrodt